Drüberleben
lächelt und zuckt mit den Schultern.
Plötzlich klatscht Simon in die Hände und sagt laut: » Toll, toll, toll. Ihr seid alle geheilt! Mann, ist das schön. Ach Peter, es ist so gut, dass auch du endlich deinen Frieden gefunden hast. Da hat das ganze Saufen ja doch nicht alle grauen Zellen rausgeschwemmt, was?«
Herr Weimers blickt ihn scharf an: » Das mag ja hier ein Ort für vieles sein, Simon, aber es ist kein Ort für persönliche Angriffe.«
» Ach, Entschuldigung!«, ruft Simon aus. » Und ich Idiot habe geglaubt, es ginge hier um Persönliches. Da habe ich wohl die emotionalen Feuerwerke mit bloßen Knallfröschen aus Fakten verwechselt, Herr Weimers! Mein Gott, eure Selbstgefälligkeit kotzt mich so an.«
» Das sagt der Richtige«, zischt Nina neben mir, ohne Simon auch nur eines Blickes zu würdigen, » ich gebe Peter absolut Recht. Man muss Warnzeichen erkennen und rechtzeitig handeln.«
» Ah, da haben wir es ja! Wie zum Beispiel?«, fragt Weimers.
» Wenn es einem schlecht geht, dann sollte man frühzeitig zum Arzt. Man sollte Warnzeichen auch als solche deuten, sich auf seinen Körper verlassen und dass der schon weiß, wie belastbar man ist. Man sollte Sport machen und mit dem Alkohol aufpassen und seine Tabletten regelmäßig nehmen. Man sollte Entspannungstechniken lernen, und außerdem sollte man mit anderen reden. Reden ist total wichtig. Man muss sagen, wenn’s einem nicht gut geht. Und Hilfe einfordern. Das ist auch wichtig. Unbedingt auch mit der Familie reden und versuchen, denen zu erklären, was mit einem los ist.« Nina lehnt sich zufrieden auf dem Stuhl zurück und sieht beinahe glücklich aus, so, als habe sie soeben eine wichtige Prüfung bestanden.
Herr Weimers erhebt sich und geht zu dem Flipchart, das in der rechten Ecke des Raumes steht. Er nimmt einen Stift und schreibt in krakeliger, fahriger Schrift das Wort » Warnzeichen« auf das karierte Papier.
» Bitte um Aufmerksamkeit, Herrschaften. Da gerade schon das Thema Warnzeichen angesprochen wurde, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausführlicher darauf eingehen. Was für Sie bedeutet: Strengen Sie Ihre grauen Zellen an, ich möchte Beispiele hören. Achtung, fertig, los.«
Nina meldet sich erneut: » Suizidgedanken und das Gefühl innerer Leere und…«
» Sexuelle Lustlosigkeit«, unterbricht Simon sie, und Herr Weimers notiert Ninas Beiträge– nicht ohne geräuschvoll ein- und auszuatmen, bevor er Simons Stichpunkt hinzufügt.
» Sozialer Rückzug«, flüstert Andrea, und Marie ergänzt: » Ja, genau, man hat keinen Bock mehr rauszugehen und denkt, dass die ganze Schose eh keinen Sinn ergibt, und dann guckt man nur noch Fernsehen, während sich die Wäsche stapelt!«
Weimers schreibt » Sozialer Rückzug« und lächelt Marie an wie etwas, das einem sehr, sehr leidtut.
» So körperlicher Kram«, meldet sich Florian, » Kopfschmerzen und Übelkeit, so als könnte man den ganzen Tag nur kotzen.«
Peter nickt. Er bedenkt Florian mit dem Blick eines Vaters, der dem Sohn gerne sagen würde, dass am Ende ja doch immer alles gut wird. In seinen Augen spiegeln sich Mitleid und das bisschen Hoffnung, das er sich hier » erarbeitet« hat.
» Nun, da haben wir ja schon einige Punkte zusammen. Jetzt möchte ich von Ihnen gerne wissen, was wir denn Schönes tun können, damit wir gar nicht erst wieder in eine solche Lage kommen«, fordert Weimers die Gruppe auf.
Dieses Mal ignoriert er Ninas wedelnde Hand und wartet, bis diese verächtlich schnaubt und ihre Meldung zurückzieht.
» Na, reden!«, meldet sich Marie » Und sich mal etwas gönnen. Ein Bad zum Beispiel. Also ich kann mich da entspannen, Wahnsinn!«
» Auf jeden Fall auch zum Arzt gehen. Und vielleicht Medikamente nehmen«, schlägt Florian vor.
Herr Weimers nimmt die Vorschläge auf und dreht sich in die Runde. Keine Hand hebt sich mehr. » Noch jemand eine Idee?«, fragt er und wartet mit dem Stift in der Hand auf Meldungen, die nicht kommen. Schließlich resigniert er und setzt sich wieder auf seinen Platz. » Gut, dann hätten wir ja einiges heute geschafft. Zum nächsten Mal bereiten Sie bitte eine Liste mit Punkten vor, die aufzeigen, was Ihnen persönlich guttun könnte, wenn Sie einige der Warnzeichen an sich bemerken. Ganz nach dem Motto: Nicht erst auf den Feuermelder pinkeln, wenn die Hand schon brennt, nicht wahr!«
Nina räuspert sich, Florian grinst dümmlich.
» So, und nun würde ich gerne noch wissen, was mit Ihnen heute los war?«
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