Drüberleben
also ich hätte da schon ein Thema, und zwar geht’s um die Sache, dass…«, sagt sie, aber Weimers unterbricht sie: » Ich habe bestimmt vergessen zu erwähnen, dass es eigentlich üblich ist, dass neue Patienten in der Gruppe während der ersten Sitzung erst einmal zuhören, um sich zu orientieren und zu sehen, worum es hier eigentlich geht. Sicherlich ist das für Sie auch ganz neu, oder?«
» Nee«, sagt Marie, » ist es nicht. Als wäre Reden etwas Neues. Mit den Mädels rede ich doch auch. Gut, das sind jetzt Freundinnen, das ist etwas anderes, ich weiß schon. Aber ob ich jetzt vor denen erzähle, wie’s mir geht, oder ob ich das hier mache, is’ mir doch egal. Also kann ich dann jetzt…?«
Simon zischt leise: » Mach doch endlich, wenn’s dir so unter den Nägeln brennt«, und Marie kichert nervös » Bist ja ’n lustiger Junge.«
Herr Weimers, der seinen Bart streichelt, gibt Marie mit einem widerwilligen Wink zu verstehen, dass sie weiterreden darf.
» Also, wo war ich stehengeblieben? Ach so, ja, genau. Also die Sache ist die, ich sag’s mal ganz direkt, also mein Mann und ich, wir arbeiten beide nicht, also ich ja schon, ich mache ja den Haushalt, aber wir kriegen halt Hartz IV , und da haben wir eben wenig Geld, und ich mache alles, echt alles, wisst ihr, ich mache die Wäsche und kümmere mich um Lea und John und koche und putze. Und irgendwie schaffe ich das nicht mehr, ich bin nur noch müde, und ich hab’ morgens keine Lust aufzustehen. Das hatte ich das letzte Mal, als ich mit dem John schwanger war, und da haben der Thomas und ich jetzt natürlich gleich gedacht, dass ich schon wieder einen Braten in der Röhre habe, aber der Doktor hat nur gesagt, dass ich wohl eher was im Kopf habe. Und der Thomas, der versteht das alles irgendwie nicht, und der hat jetzt Angst, dass ich bekloppt werde oder dass die hier so ne Psychonummer mit mir abziehen, wo ich dann nachher nicht mehr rauskann, wisst ihr?« Ihr stehen Tränen in den Augen, und sie blickt ernsthaft verzweifelt in den Raum.
Simon gähnt, Nina kaut, und der Rest wartet gespannt auf ein Statement, auf eine Reaktion von Herrn Weimers. Doch auch der bleibt seinem Schema treu und streichelt sich den Bart in einem scheinbar meditativen Rhythmus, bis er plötzlich wie aus einem Traum erwacht in die Runde fragt: » Und, möchte jemand etwas dazu sagen?«
Peter erbarmt sich als Erster. » Tja… Mensch, Marie, das klingt ja gar nicht gut. Hast du denn mal versucht, mit deinem Thomas darüber zu reden?«
» Ja sicher! Ich kaue dem dauernd ein Ohr ab, dass der sich mal ein Buch kaufen soll, wo drinsteht, was mit mir los ist, aber der will ja immer nicht. Sagt, dass er zu tun hat, dabei sitzt der den ganzen Tag nur vor der Glotze. Und ich will doch nur, dass er mich mal versteht!«
Peter versucht es weiter: » Aber vielleicht solltest du es ihm einfach mal mit deinen eigenen Worten beschreiben?«
» Was soll ich ’n da beschreiben?«
» Zum Beispiel wie du dich fühlst und was du dir von ihm wünschst«, schlägt Peter vor.
Marie beginnt, nach einem Taschentuch zu suchen. Vergeblich.
» Also ich kenne so etwas auch«, flüstert Andrea jetzt kaum hörbar. Alle Blicke wenden sich ihr zu. » Mich versteht auch keiner. Aber es gibt auch keinen, der mich verstehen könnte. Da ist ja niemand.«
Betretenes Schweigen füllt den Raum mit einer Schwere, die sich über eine Gruppe von Menschen legt, deren eines Mitglied etwas gesagt oder getan hat, das sich mit einem Male in den Köpfen und Gedanken der anderen festbeißen kann. Ein Gedanke, ein Satz, manchmal nur ein Wort, das dazu führt, dass jeder im Raum plötzlich innehält und darüber nachdenkt, was ihn betrifft, was ihn denn jetzt so betroffen macht, dass er gar nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Dieses Wort, dieser Satz kann einen Schalter betätigen, der etwas mit dem eigenen Ich zu tun hat, mit diesem Ich, das sich daran erinnert, dass es das auch kennt, dass es das auch schon einmal erlebt hat, dass es da auch eine Geschichte gibt, die etwas mit dem Gesagten zu tun hat.
Menschen untersuchen alles Gesagte fortlaufend auf den Gehalt, den es hat, auf die Plausibilität, auf den Bezug zum eigenen Selbst. Während andere sprechen, fragen sie sich dauernd, ob sie so etwas nicht auch schon einmal erlebt haben, ob sie nicht auch schon einmal in der gleichen Situation waren oder im gleichen Dreck gesessen haben.
Ja, da ist niemand, denke ich. Keiner, der wartet, keiner, der schon
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