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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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wieder und wieder. Ich hatte die Kontrolle verloren, hielt mich verzweifelt am Rand des Bootes fest und dachte bei jeder Welle, dies sei das Ende. Ich schrie um Hilfe, doch keiner hörte mich. Denn ich war vor Angst stumm geworden. Und sooft ich auftauchte, wurde ich wieder von einer Welle überwältigt.
    Ich verlor alles – mein Zuhause, meine Familie, meine Träume, meine Freude am Leben, alles war weg. Ich kämpfte allein vor mich hin in einer Welt, die ich immer noch nicht kannte, deren Regeln und Gebräuche mir einfach nicht vertrauter werden wollten. Meine Eltern waren im Dschungel, meine Geschwister weit weg in Amerika. Es fühlte sich an, als ob mich jemand mit Gewalt aus meiner Familie gerissen hätte – und doch hätte ein Anruf genügt, um meine Eltern wiederzusehen. Warum tat ich es nicht? Ich weiß es nicht; wahrscheinlich stand ich zu sehr unter dem Schock, der später als schwerer Kulturschock erkannt wurde. Ich konnte nicht klar denken, hatte nicht die Kraft, in Aktion zu treten. Ich wusste selbst nicht, wie mir geschah.
     
    Und dann, am Tiefpunkt, verlor ich auch noch meine Arbeit. Jetzt hatte ich wirklich nichts mehr. Noch nicht einmal etwas zu essen.
    Ich kam spät nach Hause, betrat die kalte, dunkle Wohnung, und in diesem Moment brach alles auseinander. Ich fing an zu weinen, fiel kraftlos auf den Boden, hatte keinen klaren Gedanken mehr. Ich wollte nur noch den unerträglichen Schmerz herausreißen, wollte nicht mehr weiterleben. Und dann tat ich etwas, was mich heute noch tief erschüttert.
    Ich krabbelte ins Bad, nahm einen Rasierer und brach die Klinge heraus. Ich spürte das kühle Metall zwischen meinen Fingern, es fühlte sich schön an, wie ein böser Befreier. Ich riss meinen Pullover herunter und hatte nur noch einen Gedanken – den Schmerz irgendwie herauszuschneiden. Wie in Trance setzte ich die Klinge auf meine weiße Haut und spürte einen kurzen stechenden Schmerz, dann sah ich, wie einer, zwei, drei, dann immer mehr Blutstropfen meinen Arm hinunterliefen.
    Plötzlich fühlte ich Erleichterung: Es war so herrlich, wie der körperliche Schmerz mich von meinem inneren Schmerz ablenkte. Ich war wie high, schnitt mich wieder und wieder, ein Handgelenk, dann das andere. Immer tiefer schnitt ich und hatte das Gefühl, ich würde damit alles retten: meine Kinder, meine Familie, mein Leben.
    Doch dann schaute ich hoch in den Spiegel und erschrak entsetzlich. Ein Geist sah mir entgegen, kreideweiß, schwarze Wimperntusche übers ganze Gesicht verschmiert, starre, verwirrte Augen. Die Realität schlug mir ins Gesicht. Ich ließ die Klinge fallen und blickte nach unten auf meine Arme, den Boden, meine Kleidung – alles war mit rotem Blut bedeckt. Ich fing an zu schreien, drückte mir die Faust in den Mund, biss in die Hand, doch ich konnte das Schreien nicht mehr stillen.
    Ich saß auf dem kalten Boden, bis das Schreien zu einem Wimmern wurde. Langsam überkam mich eine eigenartige Müdigkeit; ich wollte mich nur noch hinlegen und die Augen schließen.
    Mühsam schaute ich auf und bemerkte, dass ich immer noch blutete. Alles war rot, es sah auf eine perverse Art wunderschön aus. Mein Blut, mein Leben – ich sah, wie der Schmerz aus mir entwich, wie mein Leben aus mir floss.
    Und dann, als ob ich Abschied von dieser Welt nehmen wollte, betete ich zum ersten Mal seit langer Zeit. Es war das Gebet, das mich durch meine ganze Kindheit begleitet hatte: »Denn wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem HERRN : Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, dem ich vertraue … Es wird mir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich meinem Hause nähern. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie mich behüten auf all meinen Wegen.«
     
    »Oh Gott, was habe ich getan?«, schrie es in meinem Kopf. Es war, als würde ich plötzlich hellwach. Ich riss zwei Handtücher von der Stange und wickelte sie fest um meine Handgelenke. Alles pochte, wollte nicht aufhören zu bluten. Ich presste immer fester, bis ich endlich spürte, dass das Bluten nachließ. Ich setzte mich gegen die Wand und machte die Augen zu, die blutigen Handtücher fest an meine Wunden gepresst.
    Ich dachte zurück an mein bisheriges Leben. Alles, was ich gesehen und erlebt hatte, spielte sich wie ein Film vor meinen Augen ab: Nepal, die Berge, die Sterne, der Dschungel, die Fayu, Tuare, der Sonntagsfluss, die Kriege, der Hass, die Liebe, Ohris Tod, meine

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