Dschungelkind /
Abend sitzen wir vor dem Haus am Feuer. Haben eine herrliche Aussicht. Und dann sprechen die Fayu von dir. Sie erinnern sich, dass du auch einmal hier gesessen bist und mit ihnen Krokodile und Wildschwein gegessen hast. Sie möchten dich so gern wiedersehen. Tuare fragt immer, wann du endlich wieder zu deinem Fayu-Bruder zurückkehrst. Ich habe ihnen erklärt, dass du ganz weit weg bist. Wenn die Sonne hier untergeht, habe ich gesagt, geht sie bei Sabine auf, und wenn sie ihr Sago isst, dann seid ihr alle beim Schlafen.«
Als ich diesen Brief las, bekam ich plötzlich extremes Heimweh. Ich ging auf mein Zimmer und weinte. Die Fassade der modernen jungen Frau, die ich sorgfältig aufgebaut hatte, begann zu bröckeln, und das Dschungelkind meldete sich unmissverständlich zu Wort. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft hatte ich einen klaren Gedanken: »Ich muss bald, sehr bald, wieder zurück.«
Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatte ich meinen Schulabschluss.
Doch wie das Leben so ist, kam alles ganz anders. Es kam eine Zeit, an die ich mich nicht gern erinnern möchte. Denn so behütet, wie ich im Internat war, so brutal wurde ich in die reale Welt geworfen, ohne jegliche Erfahrung und Hilfe, komplett auf mich selbst gestellt. Niemanden gab es mehr, der mir in Ruhe alles erklärte, mich an die Hand nahm, um über die Straße zu gehen, oder mir sagte, welche Gefahren um die Ecke drohten. Ich fühlte mich hilflos und allein. Und das dunkelste Kapitel meines Lebens begann.
Allein
»Liebe Sabine,
danke für die wunderschönen Fotos, was soll ich nur sagen? Jeden Tag schaue ich sie mir an. Baby Sophia – ich kann es kaum glauben! Einige Bilder habe ich an die Wände geklebt. Mein Lieblingsfoto ist das, wo sie im Körbchen liegt und so gelb aussieht. Papa nennt das Bild ›Shing-Shang Hai‹. Ich kann es nicht erwarten, sie zu sehen.
Auch den Fayu haben wir die Fotos von Sophia gezeigt. Sie konnten sich gar nicht beruhigen, als sie hörten, dass es dein Baby ist.
Fusai fragte, ob ein Mann dich gestohlen hat.
Ja, habe ich gesagt, im richtigen Sinne gestohlen. Und er hat uns noch nicht mal gefragt.
Das fand sie unerhört!
Nakire sagte sofort: ›Nun bin ich ja Großvater!‹
›Wieso?‹, fragte Papa. ›Ich bin der Großvater, nicht du.‹
Doch Nakire meinte darauf: ›Ich bin es auch. Sabine ist ja auch meine Tochter.‹
Darauf einigten sie sich. Nakire strahlte über das ganze Gesicht.
Du solltest dann aber bald kommen, meinte er, schließlich möchte er seine Enkeltochter auch mal sehen.«
Kurz nachdem ich das Internat verlassen hatte, wurde ich schwanger. Ich hatte einen jungen Mann kennen gelernt.
Leslie hatte vergessen, mir zu sagen, dass ein Kondom auch reißen kann.
Für die Entbindung ging ich nach Deutschland, und da saß ich nun mit meiner Sophia und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Schließlich zog ich zurück in die Schweiz und heiratete den Vater des Kindes. Ein Jahr später war ich wieder schwanger. Ich bekam einen Jungen. Dann kam die Scheidung, und eins führte zum anderen. Ich hatte das Gefühl, unaufhaltsam zu sinken, konnte nicht mehr atmen, wurde in etwas Bedrohliches hineingezogen und kam nicht mehr heraus. Heimweh nach dem Dschungel plagte mich jetzt jeden Tag, meine Albträume kamen wieder.
Der einzige Lichtblick für mich waren meine Kinder. Ich liebte sie über alles, und doch waren sie der Grund, weshalb ich nicht in den Dschungel zurückkehren konnte. Ich wollte sie nicht in der Schweiz lassen und konnte sie auch nicht mitnehmen. So blieb ich, studierte und fing an zu arbeiten.
Äußerlich versuchte ich ein perfektes Bild abzugeben, doch in meinem Inneren existierten nur Angst, Verzweiflung und das Gefühl, irgendwie nicht zu genügen, nicht richtig zu sein. Ich sprach nicht mehr über meine Kindheit und wo meine Wurzeln lagen.
Wie in einem Traum ging ich durchs Leben und versuchte mich anzupassen, doch dadurch wurde es nur noch schlimmer. Ich sank immer tiefer, alles in meinem Leben schien schief zu gehen. Ich wusste nicht mehr, wer meine Feinde und wer meine Freunde waren. Nichts war für mich klar, und anstatt weiß oder schwarz gab es nur noch grau.
Irgendwie vergingen die Jahre, und ich hatte immer mehr das Gefühl, als säße ich allein in einem kleinen Boot auf dem offenen Meer, ohne Segel oder Paddel oder Ruder. Ein gewaltiger Sturm brach los. Bösartige Dunkelheit erdrückte mich, Blitz, Donner und riesige Wellen schlugen über mir zusammen,
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