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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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je gesehen hatte.
    Bei unserer zweiten Verabredung fragte er mich schon, ob ich mit ihm schlafen wolle. Ich war ein wenig perplex – war das normal hier? Ich hatte den Mut, ihm zu sagen, dass es zu früh für mich war. In den nächsten Wochen trafen wir uns so viel wie möglich, gingen Bergwandern, unterhielten uns. Ich war so verliebt, dass ich meine Großmutter anrief und ihr mitteilte, dass ich diesen Mann heiraten wollte.
    Er erzählte mir von seinem Traum, Schauspieler zu werden. Vor allem aber erzählte er mir, dass ich mit ihm schlafen sollte. Schließlich liebe er mich und wolle es mir zeigen. Und ich, frisch aus dem Dschungel, war extrem naiv. So bekam er eines Tages, was er wollte.
    Zurück im Internat, erzählte ich Leslie voller Stolz, dass ich keine Jungfrau mehr war – doch sie reagierte unerwartet: Sie wurde wütend und erklärte mir, dass sie es schade fände, dass ich nicht auf den Richtigen gewartet hatte.
    »Aber – das hab ich doch!«, gab ich verständnislos zurück. Ein paar Tage später kam eine Klassenkameradin auf mich zu und erzählte mir, dass mein Freund verheiratet sei und ein Kind habe.
    Ich war so schockiert, ich glaubte ihr kein Wort. Nein! Unmöglich! Dieser Mann log doch nicht, dieser Mann hatte keinen Ehebruch begangen. Darauf stand doch ein Pfeil, das wurde mit dem Tod bestraft!
    Ich rannte ins Haus und stellte mich unter die Dusche – der einzige Ort, wo man ein wenig Privatsphäre hatte – und weinte. Ich habe so geweint, dass ich nicht mehr stehen konnte. Ich setzte mich auf den Boden der Dusche und stopfte einen Waschlappen in meinen Mund, um meine Schreie zu dämpfen. »Was hab ich gemacht«, dachte ich wieder und wieder, »was habe ich nur gemacht?«
    War auch ich jetzt zum Tode verdammt? Er war doch mein Mann, hatte mit mir geschlafen? So war es doch im Leben, in der Welt, in der ich aufgewachsen war. Ich verstand nichts mehr. Ich saß dort unter der Dusche, unter dem prasselnden heißen Strahl, und fühlte mich so verloren wie nie zuvor. Und zum ersten Mal in meinem jungen Leben bekam ich richtige, schwarze Angst, jagende Panik. Ich wusste nicht, wovor, doch vielleicht dämmerte es mir in diesem Moment, dass die »perfekte« moderne Welt, die wir Kinder uns gern an Regentagen im Dschungel ausgemalt hatten, nur in unserer Fantasie existiert hatte.
    Dass die Welt, in der ich mich gerade befand, eine ganz andere war, eine Welt nämlich, die mir schrecklich fremd war und immer bleiben würde. Ich fühlte mich gefangen; und erst viel später sollte ich begreifen, wie gefangen ich wirklich war. Nicht körperlich, sondern zwischen zwei Kulturen, zwei Welten, gefangen in den Klauen einer starken Fantasie, die niemals existiert hat.
    Acht Jahre später sah ich diesen jungen Mann wieder. Ich wollte zum Arzt in Vevey und lief die Treppen zum Bahnhof hinauf. Bei einem Kaffee erzählte er mir, dass er jetzt geschieden sei und immer noch Schauspieler werden wolle. Zu meinem Erstaunen entschuldigte er sich dann bei mir.
    »Ich habe dir schon vor langer Zeit vergeben«, antwortete ich. »Ich habe durch dich auch ziemlich viel verstanden.«
    Danach sah ich ihn nie wieder.
     
    Die Zeit war schnell vergangen, ein neues Schuljahr begann. Leslie und Susanne verließen die Schule, und ich war sehr traurig, meine Freundinnen und »Lebensberaterinnen« zu verlieren. Dafür gab es drei neue Schülerinnen im Internat, mit denen ich ein aufregendes Schuljahr verbrachte, eine Japanerin, eine Engländerin und eine Dänin.
    Äußerlich fühlte ich mich nun halbwegs sicher in meiner neuen Umgebung, auch wenn der Schein trog: Es war ein geschütztes Leben im Château Beau Cèdre, ein Leben im goldenen Käfig.
    Wir wurden wie Erwachsene behandelt, was ich dem Direktor und seiner Frau hoch anrechne, wir konnten uns an den Wochenenden austoben, und wer über achtzehn war wie ich, durfte sogar übers Wochenende wegbleiben. Trotzdem lebten wir in einer kontrollierten Umgebung, nach einem strengen Zeitplan, und es war uns immer klar, was wir als Nächstes zu tun hatten.
    So verging das zweite Jahr, und ich verdrängte die Erinnerung an Zuhause immer mehr. Ich lebte fast wie in einem Trancezustand. Nur wenn ich die Briefe meiner Mutter bekam, spürte ich den Schmerz tief in mir. Ich schob ihn beiseite, dachte an etwas anderes und fand mich zu beschäftigt, um mich damit auseinander zu setzen.
     
    Doch eines Nachmittags bekam ich einen ganz kurzen Brief von Papa:
    »Meine liebe Tochter,
    fast jeden

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