Dschungelkind /
jetzt hör auf zu schlafen und hilf mir, deine Sprache zu lernen …«
Inzwischen hatte sich Nakire eine Hütte im Iyarike-Gebiet gebaut, und bald darauf fand er auch eine Frau. Ihr Name war Dawai.
Eines Nachts, nicht lange nach der Hochzeit, hörten wir jämmerliche Schreie von der anderen Seite des Flusses. Wir lagen schon in unseren Betten, aber als das Jammern immer lauter wurde, stand Papa doch auf. Er zündete die Kerosinlampe an und ging nach draußen.
Wir lauschten gespannt. Nach einiger Zeit verstummte das Klagen, und wir hörten Papa mit jemandem sprechen. Kurz darauf stand er dann in der Tür, neben ihm Dawai. Ihr Gesicht war geschwollen, und sie weinte. »Nakire hat mich geschlagen!«, erzählte sie uns laut schluchzend.
Mama gab Dawai zu trinken und zu essen und führte sie zu unserer Gästematratze im hinteren Zimmer. Ich schaute sie mitleidig an. Dass Nakire zu so etwas fähig war, hätte ich nie für möglich gehalten. Ich hörte Papa und Mama noch bis tief in die Nacht hinein ernst am Esstisch reden.
Am nächsten Morgen rief Papa, der gerade nach draußen gegangen war: »Doris, komm schnell her!« Mama, die gerade Kaffee kochte, ließ alles stehen und liegen und eilte zu ihm. Neugierig schlich ich aus dem Bett und schaute um die Ecke.
Papa kam mit Nakire zur Haustür herein. Ich erschrak bei seinem Anblick: Getrocknetes Blut und Schlamm bedeckten seine Hände und seinen Oberkörper; er sah furchtbar aus und klagte jämmerlich: »Dawai hat mich geschlagen und gebissen!« Dawai, die am Esstisch saß, schaute nicht hoch.
Ohne ein Wort zu sagen, fing Mama an, Nakires Wunden zu reinigen. Als sie fertig war, nahm Nakire Dawai wortlos an der Hand, und gemeinsam verließen sie das Haus. Ich sah durchs Fenster, wie sie in ihrem Boot über den Fluss zurück zu ihrer Hütte fuhren.
Nie konnte ich herausbekommen, was genau zwischen ihnen vorgefallen war. Heute lachen wir allerdings darüber, dass wir fraglos Nakire für den Schuldigen hielten, wo doch Dawai ihn angegriffen hatte, weil sie wütend auf ihn war. Als Kind hatte ich immer ein wenig Angst vor ihr. Sie hatte eine laute, durchdringende Stimme und ein Temperament, das sogar die Männer vor ihr erzittern ließ.
Doch als sie ein paar Jahre später starb, waren wir alle sehr traurig. Papa wollte die kranke Dawai noch mit dem Hubschrauber nach Jayapura ins Krankenhaus bringen, aber sie weigerte sich – sie hatte zu viel Angst vor dem Fliegen. Papa, Mama und Nakire flehten sie an, doch sie blieb stur, und so konnten wir ihr Schicksal nicht mehr wenden.
Nakire war untröstlich, weinte wochenlang und verbrannte eines Abends in seinem Trauerrausch all ihre Sachen und die ganze Hütte dazu. Danach war er oft bei uns. Papa kümmerte sich rührend um ihn und versuchte ihn, wann immer es ging, ein wenig zu trösten.
Als Nakire sich etwas erholt hatte, begleitete er Papa öfters zum Stamm der Tigre. Dort lebte eine junge Häuptlingstochter namens Fusai. Sie war ein hübsches Mädchen, und ihre ungewöhnliche Größe galt als besonders attraktiv. Nakire verliebte sich Hals über Kopf in sie, und jedes Mal, wenn Papa flussaufwärts fuhr, wurde er ganz aufgeregt, fragte uns nach Fischhaken, Stoffen, Schmuck oder Perlen, die wir zum Tauschen aus Jayapura mitgebracht hatten, um Fusai mit Geschenken zu überhäufen. Wir gaben ihm diese Sachen gern, denn es war ungewöhnlich, dass ein Fayu-Mann sich Mühe gab, das Herz eines Mädchens zu erobern. Normalerweise wäre sie einfach mit Gewalt mitgenommen worden. Doch Nakire war von Natur aus romantisch und wollte ihre Zuneigung.
Bald hatte er immerhin das Herz ihres Vaters erobert, und ein paar Monate später gab der Häuptling der Tigre Nakire seine Tochter zur Frau. Sie war ungefähr zwölf Jahre alt.
Nakire brachte Fusai voller Stolz zum Stamm der Iyarike. Er baute mit viel Sorgfalt ein Haus ganz in unserer Nähe. Es hatte sogar Wände und eine Tür, ein richtiger Palast für Fayu-Verhältnisse. Die ersten paar Wochen schienen gut zu laufen, bis Nakire eines frühen Morgens uns alle in Panik aus den Betten holte: Fusai war weg, er konnte sie nicht mehr finden! Sofort wurde eine große Suchaktion gestartet.
Die Fayu hatten ein hervorragendes »Fernmeldesystem« entwickelt, zu dem man weder Kabel, Apparate noch Geld benötigte; man musste nur laut rufen können. Es war ein System, mit dem Nachrichten kilometerweit übertragen werden konnten. Der einzige Nachteil war, dass nichts geheim blieb. Sandte man
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