Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
Vom Netzwerk:
beschleunigen.
    Wir bogen in den Klihi-Fluss ein, hatten etwa die Hälfte der Strecke hinter uns. Über den Motorlärm hinweg rief Papa uns zu, dass wir vielleicht Glück haben könnten, wenn der Wind drehte. Doch wir alle wussten, dass diese Chance sehr gering war, denn wir hatten Rückenwind, und die Sturmfront hatte unsere Verfolgung aufgenommen.
    Gespannt verfolgte ich das mächtige Naturereignis, sah, wie die Sonne von der Dunkelheit verschlungen wurde. Finsternis legte sich über den Urwald, und außer dem Dröhnen des Motors war nichts mehr zu hören, kein Vogel, kein Insekt, nichts. Da, ein Tropfen, dann noch einer, dann drei, immer mehr, jetzt konnte ich sie nicht mehr zählen, es waren zu viele. Papas Gesicht, an dem ich immer den Ernst der Lage ablesen konnte, machte mir nicht viel Mut.
    Wir fuhren noch unbehelligt um die nächste Kurve, der Fluss streckte sich kilometerlang vor uns aus, dann brach der Sturm mit krachender Gewalt über uns herein. Papa suchte das Ufer ab nach einer Stelle, an der wir anlegen konnten, doch umsonst: Da war nur dichter Urwald, der undurchdringlich über die Uferböschung quoll. Die Regentropfen prasselten auf mich herab, Tausende kleiner Nadeln stachen meinen Körper und mein Gesicht. Ich war bis auf die Haut durchnässt, fing vor Kälte an zu zittern. Es blitzte, donnerte, ich hielt die Hände schützend über den Kopf und dachte, es sei das Ende der Welt – und unseres sowieso.
    Nun schrie Mama etwas, aber ich verstand sie nicht, denn Regen und Donner waren zu laut. Ich sah, wie sie Christian eine Decke zuwarf und er sich darunter verkroch. Dann spürte ich etwas an meinen Füßen. Zuerst dachte ich, es wäre ein Tier, das auf meine Zehen krabbelte. Doch als ich nach unten schaute, sah ich kein Tier – ich sah Wasser. Wir sanken!
    In diesem Moment vergaß ich alles um mich herum, die Blitze, das Donnern, die Regentropfen, die sich wie Pfeilspitzen in meine Haut bohrten. Ich drehte mich um, riss eine Tasche auf, in der sich Töpfe und Pfannen befanden, und verstand plötzlich auch, was Mama mir zugerufen hatte. Ich verteilte Töpfe an Judith und Mama und fing wie besessen an, Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Ein Wettlauf mit der Zeit begann: Der Regen war so heftig, dass der Kanuboden schon wieder überflutet war, kaum dass ich einen Topf Wasser über Bord geschüttet hatte. Immer schneller schöpfte ich, meine Arme schmerzten, ich hatte das Gefühl, sie müssten gleich abfallen. Wenn ich hochschaute, konnte ich Mama und Judith nur schemenhaft im dichten Regen erkennen, wie sie sich schöpfend auf und ab bewegten. Christian war unter der Decke verborgen. Papa musste das Tempo drosseln, denn er konnte kaum noch ein paar Meter weit sehen – es sei denn, ein greller Blitz teilte den Himmel für eine Sekunde und erleuchtete den Dschungel taghell.
    Was für ein Gefühl! Ich befand mich in der gefährlichsten Situation meines bisherigen Lebens. Das Wasser im Boot stieg und stieg, immer mehr sanken wir der Wasseroberfläche entgegen. Der Fluss, der links und rechts an uns vorbeiraste, versuchte uns in seine Gewalt zu bekommen, und wenn es ihm gelang, würde er uns vielleicht nie wieder hergeben. Doch ich kämpfte mit den anderen weiter, der schiere Überlebenswille hatte die Macht über meine Bewegungen übernommen. Es war, als sei die Zeit stehen geblieben; als gebe es in diesem Moment nur zwei entgegengesetzte Kräfte auf dieser Erde: die Gewalt der Natur und den Überlebensdrang einer kleinen Familie, die von einem wild gewordenen und unbarmherzigen Fluss mitgerissen wurde.
    Eine vielleicht unverständliche Liebe erwachte in mir, eine Liebe zu der Gewalt des Sturmes, eine Liebe zu diesem Kampf mit den Elementen. Ich fühlte mich lebendiger als je zuvor. Jeder Muskel, jede Ader, jede Zelle in mir war erwacht. Wir wurden eins mit dem Ziel, die Natur zu besiegen.
    Der Fluss schleuderte uns in eine weitere Kurve. Papa versuchte aufzustehen, suchte das Ufer ab; er hatte die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo wir waren. Doch dann trug der Wind uns ein leises, lang gezogenes Geräusch zu. Zuerst dachte ich, es seien nur die Bäume, die vom Wind gebeutelt wurden. Aber es hörte nicht auf. Jetzt hatte Papa es auch gehört und steuerte langsam ans Ufer. Da sahen wir zwei dunkle Gestalten, die sich durchs Gesträuch kämpften. Es waren die Fayu!
    Sie hatten das Flugzeug in der Ferne gehört und gewusst, dass es ein paar Stunden dauern würde, bis wir das Dorf

Weitere Kostenlose Bücher