Dschungelkind /
Fayu-Männer liefen laut schreiend am Ufer entlang, um Christian nicht aus den Augen zu verlieren. Doch schon bald kamen sie an die Stelle, wo dichter Urwald das Flussufer zu säumen begann. Dort konnten sie nicht weiter. Auch Mama und Judith waren inzwischen aus dem Haus gelaufen und standen verzweifelt am Ufer. Christian kam immer näher an die große Flusskurve heran, und wenn er die umrundete, würden wir ihn nicht mehr sehen können. Noch gelang es ihm mit all seiner Kraft, den Kopf über Wasser zu halten.
Plötzlich sprang der Motor an, Papa wendete das Boot und hielt direkt auf die Mitte des Flusses zu. Mit voller Geschwindigkeit verfolgte er Christian. Die Kurve kam immer näher. Dort würde er in eine noch stärkere Strömung geschleudert werden. Dann verschwand mit einem Mal Christians Kopf unter Wasser, und wir konnten ihn nicht mehr sehen. Ich hörte nicht auf zu schreien, Judith stand da und weinte, Mama lief laut rufend am Ufer entlang.
Papa schaute verzweifelt um sich. Dann plötzlich, ganz in seiner Nähe, tauchte Christians Kopf wieder auf. Sofort drehte Papa das Boot in seine Richtung, und mit einem Griff hatte er Christian am Arm gepackt. In diesem Moment verschwanden sie zusammen hinter der Kurve. Dann wurde es ganz still, niemand wagte zu atmen.
Ich starrte in Richtung Flusskurve, ich dachte, meine Augen müssten herausfallen. Einige Sekunden später sah ich das Boot zurückkehren, Papa stand am Motor, und vor ihm, auf dem Boden, lag Christian. Nun konnte ich die Tränen der Erleichterung nicht mehr zurückhalten.
Als das Boot am Ufer anlegte, sprang Mama ins Wasser, hob Christian heraus und hüllte ihn schnell in eine Decke. Er zitterte am ganzen Körper, seine Lippen waren blau, er stand unter Schock und war völlig kraftlos. Sie trugen ihn ins Haus, Mama zog ihn aus und legte ihn ins Bett. Nach einer Tasse heißem Tee kam langsam wieder Farbe in sein Gesicht.
Papa jedoch war immer noch ganz blass. Er ging nach draußen, wo sich viele Fayu versammelt hatten, beruhigte sie und sagte ihnen, dass alles in Ordnung sei. Bis wir uns alle wieder beruhigt hatten, dauerte es allerdings noch eine ganze Weile.
Der Rest des Tages verlief sehr ruhig; wir waren so dankbar, dass wir unseren Christian lebendig bei uns hatten. Von diesem Tag an waren wir sehr vorsichtig beim Schwimmen, und erst viel später, als wir älter waren, wagten wir uns wieder weiter hinaus auf den Fluss, weiter hinaus in die Gefahren des Dschungels.
Doris und Doriso Bosa
N ach einigen Jahren bei den Fayu, ich muss ungefähr zehn gewesen sein, bekam meine Mutter einen neuen »Job«.
Wir saßen gerade beim Essen, als wir plötzlich ein Schreien und Stöhnen von der anderen Seite des Flusses hörten. Papa ging nach draußen, um sich zu erkundigen, warum Biya im Wasser stand und so litt.
»Sie bekommt ein Baby!«, antwortete Nakire, als sei dies die offensichtlichste Sache der Welt.
»Ganz allein?«, fragte Papa ganz erstaunt.
Nun legte Nakire die Hand über seinen Mund und sagte, er sei stumm. Er durfte sich nicht weiter über das Thema äußern, es war tabu für die Männer, genau wie das Thema Menstruation.
Papa ging zu Häuptling Kologwoi und fragte, ob er Mama über den Fluss bringen könne, um der Frau beizustehen.
Häuptling Kologwoi gab seine Erlaubnis. Biya stand immer noch im Wasser, vielleicht um die Schmerzen durch Kühlung zu lindern, denn der Fluss kam direkt aus den Bergen. Das Erste, was Mama tat, nachdem Papa sie abgesetzt hatte, war, Biya aus dem Fluss ans Land zu ziehen. Sie hatte Glück: Nach kurzer Zeit kam auch schon das Baby.
Es war Mamas erste Entbindung bei den Fayu – ein kleines Mädchen! Mama erzählte uns am Abend, dass der Ehemann einer schwangeren Frau verantwortlich war, ihr kurz vor der Geburt eine Hütte im Urwald zu bauen und genug Essen für eine Woche bereitzulegen. Dann musste er fortgehen und durfte nicht wiederkommen, bis die Frau das Baby geboren hatte. Meist war eine ältere Frau bei der Geburt dabei.
Meine Mutter mit Biya und ihrem neugeborenen Baby, Doriso Bosa
Mama fuhr jeden Tag über den Fluss und kümmerte sich um Biya. Die Kleine überlebte die ersten Monate, was zu jener Zeit nicht selbstverständlich war: Ein hoher Prozentsatz der Säuglinge starb. Wir hatten ausgerechnet, dass eine Fayu-Frau durchschnittlich sechs lebende Kinder auf die Welt brachte, von denen drei bis zum Alter von sechs Monaten starben und eines noch vor dem zehnten Lebensjahr. Zumeist hatten nur zwei
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