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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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zunächst feindlich gesonnene Vater hatte sich dann zu fügen, genauso wie eine vielleicht bereits vorhandene andere Ehefrau des Mannes. Das Thema wurde nicht mehr erwähnt, und das Leben ging weiter wie immer. Mit dem Unterschied, dass das Mädchen nun in der Hütte ihres neuen Mannes und seiner Familie lebte. Wie sie sich dabei fühlte, wage ich nicht zu sagen. Nur Faisa wäre mir nahe genug gewesen, um mir diese Frage eines Tages beantworten zu können.

Die Uhr des Dschungels
    A uch für mich blieb die Zeit nicht stehen – mein elfter Geburtstag nahte. In der Nacht zuvor konnte ich kaum schlafen, und die Spannung stieg ins Unerträgliche, als der Morgen kam. Mama und Judith waren schon aufgestanden, der Duft von Kaffee füllte unser kleines Haus. Ich sprang aus dem Bett, doch Mama schickte mich wieder zurück, sie war mit den Vorbereitungen noch nicht fertig. Christian kroch mit mir unter die Decke, und zusammen warteten wir auf den großen Augenblick. Wir feierten nämlich unseren Geburtstag immer gemeinsam: er hatte am zweiundzwanzigsten, ich am fünfundzwanzigsten Dezember.
    Endlich war es dann so weit. Judith machte den Vorhang auf, der den Schlafraum vom Wohnraum trennte, und wir rasten an ihr vorbei zum Esstisch. Dort breitete sich ein wunderschön gedeckter Frühstückstisch vor uns aus, mit bunten Servietten, Kerzen und dem, was uns am meisten interessierte: Geschenke. Papa saß schon am Tisch, Mama machte unser Lieblingsessen, Pfannkuchen mit Zimt und Zucker. Es roch herrlich! Unsere Augen leuchteten, als wir das bunte, glänzende Papier sahen, das die Geschenke umhüllte. Zum Essen waren wir zu aufgeregt, also durften wir sofort auspacken.
    Wie Mama und Papa es immer schafften, die Sachen so lange Zeit zu verstecken, ist mir heute noch ein Rätsel. Als Kinder empfanden wir es einfach als Elternmagie. Plötzlich waren da all diese unglaublichen Gaben, und zwischen ihnen und dem nächsten Geschäft lagen Hunderte von Kilometern undurchdringlichster Dschungel.
    An meinem elften Geburtstag mit der neuen Armbanduhr
    Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Tag alles bekam, doch an ein Geschenk kann ich mich noch gut erinnern: Ich bekam meine erste Armbanduhr, und was für eine! Sie hatte ein schwarzes Band, die Zeiger leuchteten im Dunkeln, und obendrauf gab es einen flachen roten Ring mit vielen kleinen Zahlen, den man drehen konnte. Wozu er diente, wusste ich nicht so genau, aber das war nicht wichtig – die neue Technologie des Drehens war entscheidend. Und das Allerbeste: Sie war wasserdicht! Noch nie hatte ich so ein tolles Geschenk bekommen.
    Ich band die Uhr um mein dünnes braunes Handgelenk und fühlte mich modern und erwachsen. Jetzt hätte ich jedem sagen können, wie spät es war. Doch anders als in Europa wollte es eigentlich niemand wissen. Im Dschungel brauchte man keine Uhr, um die Zeit zu erkennen; man brauchte sie, weil es einfach cool aussah, eine anzuhaben …
     
    Während meiner Jahre in West-Papua entwickelte ich eine andere Art von Zeitsinn. Die Zeit war viel langsamer als anderswo, kroch vor sich hin, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Sie blieb sich in ihrer Langsamkeit stets treu, jeden Tag, jede Woche und über die Jahre hinweg.
    Und so langsam wie die Zeit wurde auch ich, denn niemand war in Eile, keiner machte sich Sorgen, irgendwohin zu spät zu kommen. Was sollte schon groß passieren? Wenn man sich verabredete, so wartete man einfach geduldig, bis derjenige da war, und wenn er heute nicht kam, dann kam er am nächsten Tag, und so fort. Wenn er niemals kam, dann wollte er entweder nicht kommen, oder er war tot.
    Auch meine körperlichen Bewegungen waren langsamer, einmal, weil es ja keinen Grund gab, sich zu beeilen, und dann natürlich wegen der extremen Hitze. Bewegte man sich zu schnell, wurde man müde und schlapp. Und warum müde und schlapp werden? Es gab ja auch noch morgen und übermorgen, es gab so viele Tage und Jahre, eine Ewigkeit vor mir. Es war ein Gefühl, als wäre die Zeit, in der ich lebte, stehen geblieben, und in vieler Hinsicht war es ja auch so.
    Hinzu kam noch, dass wir keine Jahreszeiten hatten, nur Regenzeit und Trockenzeit. So flossen die Tage, Wochen und Monate ineinander über und bildeten eine lange, geradlinige Bahn, so dass ich bald nicht mehr sagen konnte, ob wir Juni oder November hatten. Der einzige Monat, auf den ich genau achtete, war der Dezember, mein Geburtsmonat.
     
    Auf der anderen Seite gab es sehr wohl eine Art Zeiterkennung,

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