Dschungelkind /
töten!«
»Wer ist Tohre?«, fragte ich.
Bebe schaute sich vorsichtig um, dann rückte er ganz nah an mich heran und flüsterte: »Er ist der böse Geist; er kommt nachts aus dem Urwald und frisst einen auf.«
»Wenn er einen auffrisst«, fragte ich, »warum ist der Körper des toten Jungen dann noch da?«
»Er frisst nicht den Körper selbst, sondern viel schlimmer, er frisst das Leben im Körper«, raunte Bebe.
»Und wie heißt dann der gute Geist?«, wollte ich wissen.
Bebe war verwirrt. »Was für ein guter Geist? Es gibt keinen guten Geist!«
»Es muss doch auch einen guten Geist geben, wenn es einen bösen gibt«, sagte ich ebenso verwirrt.
Bebe schaute mich verdutzt an. Nein, es gab definitiv keinen guten Geist. Wie traurig, dachte ich mir. Jetzt verstand ich, warum die Fayu nachts nicht gern ins Freie gingen.
In dieser Nacht hatte ich einen Albtraum. Ich träumte, dass an der Tür eine Gestalt stand, groß und hässlich, mit schwarzer Haut und spitzen Zähnen. Sie schaute mich an, kam immer näher zu meinem Bett. Ich verkroch mich unter der Decke und hoffte, dass sie nicht durch das Moskitonetz dringen könnte. Aber sicher war ich nicht – würde mein Leben jetzt auch aufgegessen? Ich hatte solche Angst, dass ich noch nicht einmal zu schreien wagte. Ich schloss die Augen und betete. Als ich am Morgen wach wurde, beruhigte ich mich zunächst, dass es nur ein böser Traum gewesen war. Doch was, wenn es wirklich einen bösen Geist gab, der das Leben im Körper fraß?
Das Leben im Urwald war voller mystischer Geschichten und Erlebnisse. Der Dschungel war eine Welt, in der sich Fantasie und Realität miteinander mischten. Aber in meinem Glauben gab es immer noch einen guten Geist, einen Geist, der uns beschützte, uns liebte und stärker war als sein böser Gegenspieler.
Dies erzählte ich Bebe, als wir das nächste Mal darüber sprachen. Er sollte keine Angst haben, denn wir glaubten an das Gute; nur deshalb hatten wir den Mut gehabt, alles aufzugeben und in eine fremde Welt einzutauchen. Es war der Glaube an das Gute, der uns nie aufgeben ließ. Auch wenn die Zeiten schwierig wurden, besiegte doch das Gute am Ende den bösen Geist.
Bebe saß neben mir, nahm meine Hand und kaute auf meinen Fingern. Es war ein Zeichen enger Freundschaft in der Kultur der Fayu. Wir schauten in die Flammen des Lagerfeuers, hörten die Nachttiere, die ihre Lieder sangen, hörten die Stille, die sich über den Urwald gelegt hatte. Ja, wir glaubten an den guten Geist, denn hier im Verlorenen Tal waren wir ihm ganz nah, wir konnten ihn spüren und fühlten uns in seiner Gegenwart sicher.
Der entscheidende Krieg
A uf dem langen, langsamen Weg zum Frieden, den die Fayu beschritten, gab es schließlich ein dramatisches Ereignis, das einen Wendepunkt markierte.
Eines Tages trafen wieder einmal zwei Stämme vor unserem Haus aufeinander. Sie fingen an zu streiten, bald darauf begann der Kriegstanz, und es war absehbar, dass sich die Auseinandersetzung bis Sonnenuntergang fortsetzen würde. Die letzten Male war es Mama gelungen, die Männer zu beruhigen und aus ihrer Trance zu reißen, indem sie einen Kassettenrekorder auf die Veranda stellte und in höchster Lautstärke eine Kassette mit Liedern abspielte. Zu unserem größten Erstaunen hatten sich die wilden Krieger allesamt vor unser Haus gesetzt und zusammen den schönen Melodien gelauscht.
Doch nun half auch dieses probate Mittel nicht mehr.
»Uwha, Uwha, Uwha«,
so tönte seit Stunden das Kriegsgeschrei. Christian und ich schauten vorsichtig aus dem Fenster, und ich bemerkte, dass die Bewegungen der Krieger sich schon verändert hatten, ihre Schreie waren grell und unheimlich geworden. Es waren die Tigre und die Iyarike, die sich gegenüberstanden, und sie hatten all die alten Geschichten ausgegraben: Jemand war gestorben, man hatte Rache geübt, ein Gegenfeldzug war die Antwort, und so immer hin und her, bis niemand mehr wusste, worum sich das alles drehte. Die Blutrache war zum Selbstzweck geworden.
Judith saß auf ihrem Bett; sie hatte Angst, und Mama versuchte sie durch Vorlesen zu beruhigen. Doch sie wurde immer nervöser und fing schließlich an zu weinen. Stundenlang hatte sie mit uns das Kriegsgeschrei angehört, immer im Wissen, dass jede Sekunde das Blutvergießen beginnen konnte. Obwohl wir es nur einmal wirklich miterlebt hatten, war diese Erinnerung tief in ihr verwurzelt.
Plötzlich wurde es zu viel für Judith. Sie fing an zu schreien, hielt sich
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