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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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Ihre Freundin gestikulierte wild in Richtung Dorf. Wir drehten uns um, und da sahen wir Nakires Bruder, der mit einem Buschmesser auf uns zurannte.
    Mit Faisa (rechts) und Klausu Bosa
    Faisa brach in Panik aus, fing an zu schreien und lief zum Wasser. Auch ich bekam panische Angst, als ich begriff, was vor meinen Augen geschah: Mir wurde in diesem Moment klar, dass ein Mann Faisa zur Frau haben wollte und dass sie sich geweigert hatte. Und es war ausgerechnet der aggressive, taubstumme Bruder Nakires.
    Faisa lief, so schnell sie nur konnte, und ich schrie immer wieder:
»Hau, hau, hau«!
 – »Nein, nein, nein!«
    Nakires Bruder aber kam näher und näher, er konnte sehr schnell laufen und holte Faisa langsam ein. Von den Schreien angelockt, versammelten sich immer mehr Fayu am Ufer und beobachteten stillschweigend das Drama, das sich auf der Sandbank abspielte. Warum half uns denn niemand, warum standen alle nur mit ausdruckslosen Gesichtern herum? Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, wie ich helfen konnte. Denn mir war klar, wenn er sie fing, würde er auf sie einschlagen, bis sie sich fügte.
    Faisa hatte jetzt fast das Wasser erreicht, als Nakires Bruder brüllend an mir vorüberlief. Es fehlten nur noch ein paar Meter, da stolperte Faisa plötzlich und fiel. Mir stockte der Atem, ich war wie gelähmt. Nakires Bruder erreichte Faisa und versuchte mit dem Buschmesser auf sie einzuschlagen. Doch sie war schneller, drehte sich instinktiv zur Seite, und das Buschmesser verfehlte sie knapp. Sie rappelte sich wieder auf und rannte ins Wasser. Ihre Freundin mit dem Kanu war nur wenige Meter von ihr entfernt. Nakires Bruder setzte ihr nach und wollte sie festhalten, aber Faisa hatte sich bereits in die Strömung geworfen und erreichte das Kanu in Sekundenschnelle.
    Sie zog sich ins Boot, während ihre Freundin versuchte, es mit einem langen Stock ins tiefe Wasser zu stoßen, damit die Strömung sie erfasste. Nakires Bruder stand im Wasser, schwang das Buschmesser über dem Kopf und schrie weiter. Ich sehe heute noch das verzweifelte Gesicht Faisas vor mir, die von der Strömung ins Ungewisse davongetragen wurde.
    Ich schaute ihr nach, bis sie hinter der Flusskurve verschwand, und war tieftraurig. Danach wartete ich jeden Tag auf ihre Rückkehr, doch umsonst – sie kam nicht wieder, sie durfte nicht wiederkommen, denn solch eine Flucht würde ihr nicht noch einmal gelingen. Das Leben schien leer ohne Faisa. Ich vermisste ihr Lächeln, ihre Kameradschaft und ihre Freude, wenn sie mir etwas Neues beibrachte.
    Jahre später erfuhr ich, dass Faisa sich lange Zeit im Urwald versteckt gehalten hatte, bis sie einen Mann fand, der auch ihr gefiel. Ich habe sie jedoch nie wiedergesehen.
     
    Nun hatte ich zum ersten Mal aus nächster Nähe mitbekommen, was passierte, wenn ein Fayu-Mädchen einen Mann verschmähte. Es schockierte mich tief. Und auch im Normalfall hatte die Frau wenig zu sagen bei der Frage, mit welchem Mann sie leben würde. Inzwischen hat sich dies geändert. Aber man wird jetzt noch besser verstehen, welche Ausnahme Nakire und seine große Liebe Fusai damals darstellten.
    Weit entfernt von unseren westlichen Paarungsritualen mit heimlichen Blicken, vielen Treffen, langsamer Annäherung und irgendwann vielleicht dem Tausch der Ringe, hatten die Fayu keine besondere Zeremonie oder Festlichkeit, wenn es ums Heiraten geht. Entweder der Vater der Frau entschied, wen seine Tochter heiraten sollte, gab sie dem erwählten Mann, und dieser nahm sie mit nach Hause. Oder ein Fayu-Mann sah, dass ein Mädchen in die Pubertät kam und reif für die »Ehe« wurde. Wenn sie ihm gefiel, nahm er sie einfach mit sich oder »stahl« sie, wie die Fayu selbst es nannten. Weigerte sie sich, wie im Falle Faisas, so nahm er sie mit Gewalt.
    Doch manchmal war die Situation noch ein wenig komplizierter:
    Es kam vor, dass ein Mann ein bestimmtes Mädchen zur Frau haben wollte, doch ihr Vater wehrte sich dagegen. Vielleicht beauftragte er andere, sie zu bewachen. Also wartete dieser Mann geduldig auf den richtigen Zeitpunkt, und wenn das Mädchen kurz einmal ohne Begleitung war, nahm er sie ohne Vorwarnung und zerrte sie in den Urwald. Dort versteckte er sich mit ihr, bis sie bereit war, bei ihm zu bleiben.
    Was ich an diesen ziemlich krassen Bräuchen am eigenartigsten fand, war die Tatsache, dass das Paar, wenn es wieder aus dem Urwald zurück ins Dorf kam, von allen fraglos als »Ehepaar« akzeptiert wurde. Auch der

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