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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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eine sehr präzise sogar: die so genannte Uhr des Dschungels. Und nach ihr richtete sich der gesamte Urwald, sei es nun Tier, Pflanze oder Mensch.
    Die Sonne, der Mond und die Insekten waren bessere Indikatoren für mich als das Metall, das um meinen Arm gebunden war. Die Uhr des Dschungels war präzise, musste nie aufgezogen, niemals gestellt und niemals korrigiert werden. Durch das ganze Jahr hindurch, pünktlich um sechs Uhr, ging die Sonne auf, weckte mich und rief mich nach draußen. Langsam machte sie ihre Reise über den Himmel. Wenn sie genau über mir stand, war es Zeit, im Schatten Schutz zu suchen und etwas zu essen, und siehe da, auf meiner Armbanduhr war es zwölf Uhr mittags. Später dann kamen die Moskitos. Pünktlich um sechs Uhr abends strömten die dunklen Wolken hungernder Blutsauger aus ihren Verstecken hervor. Es war kühler geworden, und nun war ihre Zeit zum Essen gekommen. Es gab sogar eine Pflanze, die über die Mittagszeit ihre Blätter schloss, um sich vor der Hitze zu schützen, und um Punkt fünf Uhr öffnete sie sich wieder. Wenn schließlich der Mond den Himmel übernahm, war es Zeit zum Schlafengehen, und am nächsten Tag fing alles wieder von vorne an.
    Als ich nach Europa kam, musste ich lange kämpfen, um mich an die neue Geschwindigkeit der Zeit zu gewöhnen. Ein Tag vergeht hier so wie eine Woche im Urwald, eine Woche wie ein Monat. Manchmal bekam ich Panik, konnte nicht verstehen, wo die Zeit wieder geblieben war, hatte das Gefühl, alles geriet außer Kontrolle.
    Im Dschungel aber ließ ich die Tage über mich hinwegziehen, nahm Situationen an, wie sie kamen, und regte mich auch nicht auf, wenn sich Pläne änderten – das taten sie nämlich öfters. Denn so lässig, wie sich die Zeit betrug, waren auch jegliche Pläne, die wir machten. Über die Jahre lernten wir, nie weiter als eine Woche im Voraus zu planen, denn man wusste nicht, was alles noch geschehen konnte. Manchmal war das Motorboot kaputt, ein andermal das Flugzeug, dann wieder gab es eine Überschwemmung, oder der Pilot lag mit Malaria im Bett. Dadurch entwickelten wir Gelassenheit, regten uns nicht mehr auf, wenn etwas nicht klappte. Wir haben gelernt, von einem Tag zum anderen unsere Pläne zu ändern.
     
    Das westliche Vorgehen, dass man zehn Jahre oder noch weiter vorausplant, schien mir äußerst merkwürdig, als ich zum ersten Mal davon hörte. Es war eine neue Denkweise für mich, die ich nach Jahren erst zu akzeptieren und zu verstehen begann. Ich sah überall um mich herum, dass Planung wichtig ist, wusste aber nicht, wie ich es für mich selbst anstellen sollte. Zwar gibt es Mengen von Büchern oder Kursen über so genanntes Zeitmanagement – aber natürlich war niemand darauf eingestellt, mir die Unterschiede im Lebensrhythmus klar zu machen, mit denen ich als »Rückkehrer« aus dem Dschungel zu kämpfen hatte. Erst um meinen dreißigsten Geburtstag herum, vor zirka zwei Jahren also, habe ich angefangen, mein Leben zu planen – so lange dauerte es, bis ich diese neue Art der Zeitbehandlung verstand und auch umsetzen konnte.

Gute Geister, böse Geister
    N icht oft sprach ich mit meinen Fayu-Freunden über Gefühle oder das, woran wir glaubten. Zu sehr beschäftigten uns die reellen Dinge des Alltags, unser Spiel, das Essen, Menschen und Tiere. Manchmal aber kam es doch dazu.
    Ich stand mit Bebe auf der Sandbank. Ein grauenvoller Gestank erfüllte die schwüle Luft. Es waren gerade ein paar Kanus von flussaufwärts angekommen, und in einem davon lag ein toter Junge, etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sein Körper war bedeckt mit Fliegen, er war aufgebläht, und als ich ihn sah, wurde mir schlecht.
    Die Mutter des Jungen saß im Boot und strahlte mich an, als sei sie stolz darauf, ihren toten Jungen zu uns gebracht zu haben. Normalerweise ließen die Fayu die Toten in ihren Hütten liegen. Sie schickte sich an, die Leiche aus dem Boot zu heben, da kam schon Nakire angelaufen und bat sie, ihren Sohn woanders aufzubahren. Die Frau wurde wütend und schrie ihn an, jemand habe ihren Sohn durch einen Fluch getötet, immer wieder schrie sie das. Damit wollten wir nichts zu tun haben, und so blieb Nakire stur, bis die Frau schließlich unter lauten Verfluchungen mit dem Kanu unser Gebiet verließ.
     
    »Bestimmt hat Tohre den Jungen umgebracht«, sagte Bebe ängstlich, als die trauernde Mutter verschwunden war. »Heute Abend bleibe ich in meiner Hütte. Er könnte wiederkommen und auch mich

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