DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
sind, ihrem Schöpfer in Liebe zu antworten. Daraus folgt, dass genau wir der Grund für die Existenz der Schöpfung sind. Infolgedessen sind das Schicksal des Kosmos und das Schicksal der Menschheit eng miteinander verbunden, und zwar noch vor dem Anfang – dem Alpha-Punkt.«
Gianni ging zur anderen Seite des Raums und fand seinen Schrittrhythmus, während er sich für seine These erwärmte; nach italienischer Art vollführte er mit seinen Händen aufwändige Gesten in der Luft. »So es einen Anfang gab, so wird es ein Ende geben. Und mit Blick auf ihn ist dies unser Glaube: Der Schöpfer wünscht sich, dass die Zeit ihren Verlauf nimmt und nicht bloß an irgendeinem beliebigen Punkt nahe vor der abschließenden Vollendung aufhört, die er sich ersehnt – ein Zielort, der als Omega-Punkt bekannt ist. Dieser ist die vervollkommnete, harmonische und freudenreiche Einheit der gesamten Schöpfung in ihrem Schöpfer zu dem Zweck, sich an der fortlaufenden kreativen Aktivität eines erlösten und transformierten Universums zu beteiligen – und das für immer.«
Gianni hob einen Finger in der klassischen Pose eines Lehrers, der ein Zitat begann. »Denn wie der Autor des Epheserbriefs – als er dies erblickt hatte – sich bewegt sah zu schreiben: ›Er tat uns kund das Geheimnis seines Willens nach seinem huldvollen Ratschluss, den er im Voraus gefasst hat in ihm, um eintreten zu lassen die Fülle der Zeiten und alles zusammenzuführen in Christus, was im Himmel ist und was auf Erden.‹ Erneut der Omega-Punkt.«
Er kehrte zum Podium zurück, wo er sich einen Moment Zeit ließ, um seine Gedanken zu sammeln, bevor er abermals zu reden begann. »Einen im Voraus gefassten Ratschluss für die Fülle der Zeiten«, sagte er und gab die uralten Worte nochmals wieder. »Lassen Sie uns darüber nachdenken, was das bedeutet, denn Zeit ist immerhin eine wesentliche Qualität unserer Existenz. Aus der Sicht des Menschen ist Zeit eine lineare Vorwärtsbewegung: Sie setzt sich zusammen aus einer sich rasch zurückziehenden Vergangenheit, die niemals verändert oder wiederhergestellt werden kann, einer sich ständig bewegenden Gegenwart, die aus einem flüchtigen Moment besteht, der sich niemals vollständig ergreifen und festhalten lässt, und aus einer nicht ausgeformten Zukunft, die sich aus vielen möglichen Auswirkungen von irgendwelchen Handlungen oder Geschehnissen zusammensetzt, und von diesen potenziellen Folgen wird nur eine in die Wirklichkeit übergehen. Ist das nicht unsere Art und Weise, wie wir die Zeit betrachten?«
Ringsum im Raum waren nickende Köpfe zu sehen.
»Doch aus einer göttlichen Perspektive kann Zeit vollkommen anders sein. Für den Schöpfer ist die Vergangenheit niemals verloren, niemals jenseits der Möglichkeit, sie wiederherzustellen – denn sie kann immer zurückgeholt werden, indem man sie in eine breitere Struktur von vollendeter Güte einwebt, sodass selbst die entsetzlichsten Katastrophen des Lebens eine wichtige Rolle spielen können, um den beabsichtigten Zweck der Schöpfung zu erreichen. Auf diese Weise kann die Vergangenheit erlöst werden. Aus der göttlichen Perspektive«, hob der Priester hervor, »ist die Gegenwart kein flüchtiger Moment – einen Augenblick hier, dann fort. Für den Schöpfer ist die Gegenwart eine formbare Substanz, die gehalten, genährt und zu einer Realisierung ihres vollsten Potenzials geführt werden kann – als ein Mittel zum Ausdruck von Güte, Schönheit und Wahrheit und deshalb auch als eine Widerspiegelung des Göttlichen. Und die Zukunft … « Gianni hielt inne, nachdem er dieses Wort in die Länge gezogen hatte. »Die Zukunft ist die wunderbarste Schöpfung. Denn in ihr liegt das ganze Geheimnis unbearbeiteter Potenzialität – ein endloses Reservoir von allem, das sein könnte. Sie wird geformt von den grenzenlosen Interaktionen der bewussten Menschen mit ihren individuellen Umgebungen, Umständen und Bedingungen – und in Übereinstimmung mit ihren Mitmenschen. An dieser Stelle halten wir inne, um uns zu fragen: Kontrolliert der Schöpfer diesen Prozess der Interaktion? Steuert unser weiser und gütiger Erhalter diese Interaktionen, die das Gewebe der Gegebenheit herstellen, das wir als Wirklichkeit kennen?«
Der Blick des Physiker-Priesters glitt durch den Raum; alle Augen waren auf ihn gerichtet, und manche Stirn hatte sich in Gedanken gefurcht. »Wenn Sie einen Augenblick darüber nachdenken, sollten Sie erkennen, dass Gott dies nicht tut.
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