DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
Die Interaktionen dieser Handelnden zu kontrollieren würde bedeuten, den Zweck zunichtezumachen, weswegen diese Akteure geschaffen wurden. Falls ein Beweis für diese Behauptung benötigt wird, dann müssen wir nur auf uns selbst schauen, denn jeder Einzelne von uns in diesem Raum hat nicht nur das Wunder und die Schönheit des Ley-Reisens erfahren, sondern auch seine verblüffenden Begrenzungen. Bei unseren Reisen bewegen wir uns von Ort zu Ort, leben in unterschiedlichen Dimensionen und nehmen teil an Zeitaltern, die nicht unsere eigenen sind. An jedem Ort und in jeder Zeit sind wir verfangen im Leben und in den Geschehnissen jenes bestimmten Reiseziels – ist das nicht so?«
Ringsum wurde zustimmend mit den Köpfen genickt.
»Ja, wir mögen unseren Verstand und unsere Auffassungsgabe mitbringen – was nicht anders zu erwarten ist –, aber wir schweben nicht oberhalb und bewegen uns nicht außerhalb der Wirklichkeit jener alternativen Existenzweise. Tatsächlich ist es so: Wohin auch immer wir reisen, wir sind eingefangen in dem Leben der Welt, die wir besuchen, und zwar in genau der gleichen Weise wie jene, für die jene Wirklichkeit die einzige Erfahrung von Welt darstellt. Wir leben mit ihnen und sind denselben grundlegenden Lebensstrukturen unterworfen, wie jene Menschen sie kennen – welche vorherigen Erfahrungen wir auch immer in der Welt gehabt haben mögen, in die wir hineingeboren worden sind. Mit anderen Worten: Wir führen ein gemeinsames Leben mit jenen Menschen, und – woran wir früher an diesem Abend während des Gedenkgottesdienstes für Cosimo und Sir Henry so ergreifend erinnert worden sind – wir können auch einen für sie üblichen Tod erleiden. Nichts an unserer Fähigkeit, quer durch die Dimensionen unseres Universums zu springen, schützt uns vor dem Leben und dem Tod: und auch nicht vor der sich entfaltenden Realität der Orte, die wir besuchen und die – wie wir zusätzlich bemerken – immer, immer irgendeine Variante der Vergangenheit unserer Heimatwelt sind. Trotz unserer Fachkenntnisse bei der Handhabung von Ley-Linien gestehen wir unser Unvermögen ein, uns selbst von der Teilnahme der fortlaufenden Realität des Multiversums abzutrennen. Jeder Einzelne von uns hat über das Geheimnis nachgedacht, dass wir nicht die Macht besitzen, in die Zukunft zu gelangen – geschweige denn, sie zu beeinflussen. All unsere Reisen und Erfahrungen haben uns einer Erklärung, weshalb dies so sein soll, nicht nähergebracht.« Er breitete seine Hände aus und lud jedes Mitglied dazu ein, das Rätsel zu bedenken. »Ich frage also erneut: Kontrolliert unser weiser Schöpfer allein die Zukunft?«
Er ließ die Frage im Raum stehen, während er zu seinem Platz am Podium zurückkehrte. »Nein.« Langsam schüttelte Gianni seinen Kopf. »Es ist meine Überzeugung, dass die Zukunft in keiner Weise kontrolliert wird. Die Zukunft zu kontrollieren würde der geschaffenen Ordnung einen deterministischen Ausgang aufbürden, wodurch sowohl die Freiheit als auch die Selbstständigkeit der frei interagierenden Geschöpfe zerstört würden, für deren Erschaffung sie doch gedacht war – und so gleichermaßen genau den Zweck zunichtemachen, für den die Zukunft und sogar die Zeit an sich geschaffen wurde!«
Gianni sprach mit unbekümmerter Zuversicht; seine Ausdrucksweise zeigte keine der sprachlichen Mängel auf, die er eingeräumt hatte. Eher erschien es Kit, dass der Priester in seinem Vortrag immer stärker wurde und sein Redefluss der Klarheit seines Verstandes ebenbürtig war. Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte Kit die unheimliche Erkenntnis, dass ihm eine Wahrheit erzählt wurde, die er immer schon instinktiv gewusst hatte, aber stets knapp außerhalb seiner Artikulationsfähigkeit geblieben war. Sie nun zu hören – laut ausgesprochen an diesem Ort von einem Mann von unzweifelhafter Leidenschaft und Hingabe –, rief den Eindruck hervor, zu nahe an einer offenen Flamme zu stehen: so, als würde er verzehrt werden, wenn er noch länger in der Nähe der Quelle dieses heiligen Wissens verweilte.
»Wir müssen uns an den Aufbewahrungsort des reinen Möglichen erinnern«, fuhr der Priester fort. »Es ist jener Platz, an dem die Myriaden von Möglichkeiten einer jeden einzelnen Handlung ansässig sind, wo die unendlichen Folgen unserer Teilnahme an der Schöpfung erzeugt werden. Die Zukunft existiert, um der geschaffenen Ordnung zu erlauben, den höchsten Ausdruck von Güte, Schönheit und Wahrheit
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