DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
dichter wurden.
Als sie einen der höheren Hügel erklommen, schrie Giles, der seinen Arm um seine Herrin gelegt hatte, um sie vor einem Sturz vom Pferd zu bewahren: »Schaut nur!«
Haven hob zunächst ihre Augen und schaute anschließend auf sein Gesicht hinab, das von der glühenden Abendsonne rot gefärbt war. Sie folgte seinem Blick, und es verschlug ihr den Atem.
Die abwärts führende Flanke des Hügels lief aus und führte zum Anblick eines riesigen, flachen Tals mit einem breiten Fluss, der hindurchströmte; sein Wasser glitzerte wie Quecksilber. Doch es war, obschon sie Durst hatte, nicht der glänzende Fluss, der ihre Aufmerksamkeit fesselte und ihr den Atem raubte. Vor ihnen ausgebreitet befand sich eine gewaltige Schar von Menschen und Tieren, von denen die große Talschüssel auf beiden Seiten des Stromes ausgefüllt wurde: Männer, Frauen, Kinder, Pferde, Hunde, Vieh – in kleinen und größeren Knäueln von Hunderten, Tausenden und größeren Einheiten. Eine ganze Nation in Bewegung, die gen Westen auf das sterbende Licht zuhielt.
»Möge Gott uns beistehen!«, rief Haven keuchend, die das sich vor ihnen ausbreitende Schauspiel auf sich einwirken ließ. »Was ist … wer …?« Sie verstummte, da ihr die Worte fehlten. Dann wandte sie sich Giles zu. »Was werden wir nun tun?«
Ihre Geiselnehmer stiegen den Hang hinab und schlossen sich dem Wanderzug an. Eingeklemmt von den Reitern, wurden Haven und Giles ein wenig getrennt gehalten von der größeren Masse von Leuten zu Fuß. Die beiden waren jedoch nah genug, um zu beobachten, dass es sich um einen gedrungenen, robusten Menschenschlag handelte, mit glatten schwarzen Haaren, schwarzen Mandelaugen und Gesichtern, die so rund wie der Mond und flach wie Essteller waren. Ihre Gliedmaßen waren kurz und muskulös; und nach dem zu schließen, was man unter den dicken Falten ihrer schweren Filzbekleidung erkennen konnte, schienen sie eher stämmig als schlank zu sein. Als Fußbekleidung trugen sie Streifen von Tierhäuten, die von Lederverbänden zusammengehalten wurden, sodass sie sich trotz ihrer immensen Zahl mit einer beinahe unnatürlichen Stille bewegten. Niemand sprach, kein Hund bellte, kein Kind murmelte, kein Pferd wieherte – diese riesige Masse aus Menschen und Nutztieren strömte so leise über das Land wie der Fluss neben ihnen.
Während der größere Teil dieses Volkes weiterhin die Anwesenheit der Fremden in ihrer Mitte nicht bemerkte, ertappten Giles und Haven von Zeit zu Zeit jemanden, der sie mit unverhohlener Neugier beäugte. Diejenigen, die ihnen am nächsten waren, nahmen eindeutig Notiz von den zwei fremden, großen, bleichen Leuten, aber niemand gab auch nur so viel wie ein Murmeln von sich. Die größere Masse der Menschen trottete mit den Köpfen nach unten weiter, die Augen auf den nächsten Schritt vor ihnen fixiert; und das unirdische Schweigen überwog.
Und bald wurde es offenbar, warum sie sich so verhielten.
Als die Spitze der großen Menschenmenge eine Flussbiegung erreichte und sich zu verteilen begann, erklang plötzlich das schreckliche Geräusch eines Himmelsbolzens, der am dunkler werdenden Himmel entlangzischte. Giles und Haven hielten wie jene um sie herum mitten im Schritt inne und schauten hoch, wo sie eine Feuerkugel am Himmel flitzen sahen, die pfiff, während sie näher kam. Sie flog in einem Bogen über ihren Köpfen und stürzte in einiger Entfernung hinter ihnen auf die Erde, wo sie in der Nähe des Flussufers auftraf. Einen Augenblick später explodierte das Ding in einem ohrenbetäubenden, blendenden Sperrfeuer aus Rauch und brennenden Bruchstücken, wobei Funken und Dreck in die Luft geschleudert wurden.
Noch vor der Explosion wogte die Masse der Menschen von dem Einschlagsort fort; sie flohen um ihr Leben. Auf der Spur der ersten folgten rasch zwei weitere Feuerkugeln, die den sich verdunkelnden Abendhimmel erleuchteten; sie zogen weißen Rauch und Flammen hinter sich her und erfüllten die Luft mit einem bösartigen Kreischen. Die Explosionen schlugen diesmal näher ein, und mit dem Ausbruch von Funken und heißem Metall kamen die Schreie unglücklicher Opfer.
Der Anführer des Kriegstrupps, der Giles und Haven gefangen genommen hatte, tauchte aus dem Wirrwarr auf. Laut rufend gab er Befehle, und der Krieger, der Haven trug, schob sie von seinem Reittier und in Giles’ Arme. Anschließend entfernten sich alle drei Reiter und ließen ihre Gefangenen zurück; sie schlossen sich dem größeren
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