Du bist in meiner Hand
den Holzsteg erreichte, der über die Dünen führte, blieb er einen Moment stehen und wartete, bis der gleichmäßige Rhythmus des Meeres ein wenig Ruhe in seinen Kopf brachte. Er hatte einen langen Tag vor sich. Bei dem Gedanken daran verzog er das Gesicht.
Seit er und Priya in die Stadt gezogen waren, hatten sie den Weihnachtsabend immer bei seiner Familie in Alexandria verbracht. Dieses Jahr hatte er ohne jede Erklärung mit der Tradition gebrochen. Sein Vater hatte sein Missfallen in knappen Worten geäußert, doch seine Mutter war völlig am Boden zerstört gewesen. Obwohl sie sich ausdrücklich nach seinen und Priyas Plänen erkundigt hatte, war er nicht mit Einzelheiten herausgerückt. Er brachte es einfach nicht über sich, ihr zu sagen, dass Priya ihn verlassen hatte.
Am Ende aber hatten sie ihm doch zu sehr zugesetzt. Seine Mutter hatte darauf bestanden – bestanden –, dass sie wenigstens einmal zum Abendessen kamen; egal, ob vor oder nach den Feiertagen. Er hatte versucht, sich herauszureden und es auf die viele Arbeit in der Kanzlei zu schieben, woraufhin der Richter sich den Telefonhörer gegriffen und ein Machtwort gesprochen hatte.
»Der Tag nach Weihnachten ist ein Sonntag«, hatte er erklärt. »An dem Tag ist kein Mensch in der Kanzlei. Ich bin mir sicher, dass du da auch mal eine Pause einlegen kannst.«
»An dem Abend ist die Kanzleiweihnachtsfeier«, hatte Thomas gekontert.
Die Finte hatte so lange funktioniert, bis der Richter auf die Idee gekommen war, nachzufragen, wann die Feier denn beginne.
»Um halb neun«, hatte er zugegeben.
»Dann kannst du ja vorher vorbeikommen«, hatte der Richter erklärt.
Thomas kehrte zum Strandhaus zurück und packte seine Tasche. Die meisten seiner Kumpel schliefen noch, und das Haus war in einem katastrophalen Zustand. Überall lagen und standen schmutzige Teller und Schnapsgläser herum, und in der Luft hing immer noch schwacher Alkoholdunst. Er beneidete Jeremy nicht um die Aufgabe, dieses Chaos wieder zu beseitigen.
Er traf seinen Freund in der Diele, bekleidet mit einem grauen T-Shirt und Boxershorts.
»Du brichst schon auf?«, fragte Jeremy. »Ich mache später Pfannkuchen. Treibstoff für den Rückweg.«
Thomas fuhr sich durch sein dunkles Haar. »Klingt sehr verlockend, aber ich muss zurück. Heute Abend ist die Weihnachtsfeier von Clayton, und vorher muss ich noch einen Zwischenstopp bei meinen Eltern einlegen. Sie haben mich zum Essen eingeladen.«
»Manchmal kommt es einem vor, als würden die Feiertage kein Ende nehmen«, meinte Jeremy grinsend.
»Vielen Dank, dass du an mich gedacht hast«, sagte Thomas.
Jeremy packte ihn an der Schulter. »Ich weiß, unsere Feier kam nicht an einen Weihnachtsabend mit Priya heran, aber es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben. Wenn ich irgendwas für dich tun kann …«
»Danke.« Thomas bedachte seinen Freund mit einem schwachen Lächeln, griff nach seiner Tasche und brach auf.
Thomas verließ die Ferienanlage und fuhr in Richtung Charleston. Auf die zehnstündige Rückfahrt hätte er gut und gerne verzichten können. Immerhin herrschte wenig Verkehr, sodass er die Stadt in vierzig Minuten erreichte. Eigentlich hatte er es gar nicht so eilig, aber da weit und breit keine Polizei zu sehen war, konnte er nicht widerstehen und gab Gas. Gleichzeitig bemühte er sich nach Kräften, nicht an das leere Sandsteinhaus zu denken, das ihn in Georgetown erwartete, und auch nicht an den Jasmin- und Fliederduft von Priyas Parfum, nach dem seine Bettwäsche immer noch roch.
Gegen Mittag hielt Thomas an, um zu tanken. Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, dass er nicht gefrühstückt hatte. Auf die Empfehlung des Tankwarts hin kaufte er sich an einem örtlichen Kiosk ein Schweinebratensandwich und fuhr einen knappen Kilometer bis zum botanischen Garten von Cape Fear. Inzwischen hatte sich die Luft so weit aufgewärmt, dass er im Freien sitzen konnte.
Er stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und betrat die Gärten. Es war ein idyllischer Ort mit üppigem Grün. Ein paar Pärchen gingen dort spazieren, ein älterer Mann warf einem Taubenschwarm Reiskörner zu, und eine blonde Frau mit Hut machte Schnappschüsse von einem Mann, der mit Sonnenbrille unter einer Eiche posierte. Nicht weit von den beiden entfernt steuerten eine junge Mutter und ein etwa zehnjähriges Mädchen auf die speziell für Kinder angelegten Gärten zu. Während Thomas beobachtete, wie das Mädchen seiner Mutter vorauslief,
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