Du bist in meiner Hand
nie. Ihnen ist sicher bekannt, dass Frankreich ein gewisses Problem mit illegalen Einwanderern hat.«
»Wir haben in den Vereinigten Staaten dasselbe Problem«, erklärte Thomas höflich. Insgeheim war er mit Léons ausweichender Antwort nicht zufrieden. »Julia hat mir auf dem Weg hierher erzählt, dass Sie in Paris der Experte für Menschenhandel sind«, fuhr er fort. »Stimmt das?«
Léon hob abwehrend die Hände. »Es gibt Leute, die das behaupten. Aber es gibt auch noch andere, die sich in dem Bereich auskennen.«
»Sie reichen mir vollkommen. Also, ich sehe die Sache folgendermaßen: Sita hat sich während der vergangenen zwei Monate in der Stadt aufgehalten, und wie Sie ganz richtig sagen, könnte sie immer noch hier sein. Auf jeden Fall muss sie eine Spur hinterlassen haben. Von Ihnen hätte ich gern einen ersten Anhaltspunkt. Sagen Sie mir, wohin ich gehen und mit wem ich sprechen soll. Wenn Sita irgendwo da draußen ist, muss es doch einen Weg geben, sie zu finden.«
Nachdem der Franzose einen Moment lang überlegt hatte, stellte er Thomas eine Frage: »Sind Sie gläubig, Mr. Clarke?«
Thomas zog die Augenbrauen hoch. »Nicht besonders.«
»Schade. Sonst hätte ich Ihnen nämlich geraten zu beten.«
Thomas wartete auf eine weitere Erklärung. Allmählich wurde das Schweigen peinlich.
»So lautet also Ihre Antwort?«, fragte er frustriert.
Seufzend verzog der Franzose das Gesicht. »Verzeihen Sie. Julia wird Ihnen bestätigen, dass ich eine tief verwurzelte Abneigung dagegen habe, Ratschläge zu erteilen. Das ist so eine Macke von mir. Wahrscheinlich habe ich einfach Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Verfügen Sie über ein Foto des Mädchens?«
Thomas nickte und zeigte Léon die Aufnahme von Sita.
Der Franzose schürzte die Lippen. »Das müsste seinen Zweck erfüllen. Mir fällt dazu eigentlich nur eins ein: Wenn ich mir in den Kopf gesetzt hätte, sie zu finden, würde ich mit dem Foto auf die Straße gehen. Ich würde im zehnten Arrondissement anfangen und mich von dort bis ins achtzehnte vorarbeiten. Ich würde Frauen und Kinder fragen, und zwar vor allem solche, die aus dem südasiatischen Raum stammen. Trotzdem wäre ich realistisch. Letztendlich müsste ein Wunder geschehen, damit Sie sie finden.«
Als Thomas einen fragenden Blick zu Julia hinüberwarf, nickte sie. »Jean-Pierres Idee ist so gut wie jede andere.«
»Hin und wieder sind wir Gelehrten durchaus zu etwas zu gebrauchen.« Mit diesen Worten erhob sich Léon und reichte Thomas seine Visitenkarte. »Ich wünsche Ihnen alles Glück. Sollten Sie das Mädchen tatsächlich finden, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«
»Das mache ich«, versprach Thomas, bevor er Julia hinaus auf die Straße folgte. Während sie zurück in Richtung Forum Les Halles gingen, warf er einen Blick auf die Uhr. Es war fast schon elf.
»Ich habe ganz vergessen zu fragen, wo Sie wohnen«, stellte Julia fest.
»In einem Hotel neben dem Jardin du Luxembourg.«
»Ihre alte Ecke«, meinte Julia lächelnd.
»Ich habe mir gedacht, ein bisschen Nostalgie könnte nicht schaden.«
»Vielleicht möchten Sie erst mal einchecken? Ich rufe Sie später an, wenn ich etwas höre. Falls Sie Lust haben, können Sie sich heute Nachmittag ja schon einmal ein bisschen umhören. Vielleicht kann ich Sie morgen dabei unterstützen.«
Gemeinsam kämpften sie sich durch das Labyrinth des Einkaufszentrums. Vor dem Durchgang zur Metro blieb Julia stehen und legte Thomas eine Hand auf den Arm.
»Ich finde das, was Sie da tun, sehr edel«, bemerkte sie. »Andrew hat Ihnen sicher von meiner Schwester erzählt.«
Thomas nickte.
»Wir wissen nach wie vor nicht, ob sie tot ist oder womöglich an irgendeinem schrecklichen Ort ihr Leben fris tet.« Sie bedachte ihn mit einem beschwörenden Blick. »Ich weiß, dass Ihre Chancen sehr gering sind. Versprechen Sie mir trotzdem, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, um dieses Mädchen zu finden.«
»Sita hat auch eine Schwester«, erklärte er und zeigte ihr das Rakhi -Armband. »Sie hat mir genau dasselbe Versprechen abgenommen.«
Das Boutique Hotel, das er sich ausgesucht hatte, lag etwas versteckt in einer kleinen Sackgasse, die von der Rue Gay Lussac abzweigte. Nachdem Thomas eingecheckt und geduscht hatte, verließ er das Hotel wieder und erstand in einem nahe gelegenen Buchladen einen Stadtplan, den er anschließend in einem Café gegenüber dem Osteingang des Jardin du Luxembourg studierte, während er dort
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