Du bist in meiner Hand
spürte er in seinem Inneren ein vertrautes schmerzhaftes Ziehen. Während Priyas Schwangerschaft hatte er sich oft vorgestellt, wie Mohini im Rock Creek Park ihre ersten Schritte machen würde – eine von so vielen Hoffnungen, die durch den Tod des kleinen Mädchens zunichtegemacht worden waren.
Er ging zu einem kleinen Pavillon hinüber, der inmitten einer Wiese stand, und ließ sich auf den Stufen nieder. Von dort sah er zu, wie Mutter und Tochter in einem Wäldchen aus immergrünen Bäumen verschwanden. Die Frau mit der Kamera verlor bald das Interesse daran, ihren Begleiter zu fotografieren, und richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf die Flora. Man hörte es immer wieder klicken, während die Frau ihre Linse aufs Geratewohl hin und her schwenkte und sich dabei im Zickzackkurs auf den Pfad zubewegte, der zu den Gärten für Kinder führte. Ihr Freund schlenderte hinter ihr her.
Thomas holte sein Sandwich heraus und begann zu essen. Dabei beobachtete er die gemächlich am Himmel dahinziehenden Wolken und genoss die Stille des Ortes. Nach einer Weile ließ er den Blick wieder quer über die Wiese schweifen und sah, dass der ältere Herr sich auf einer Bank am Rand der Bäume niedergelassen hatte. Alle anderen waren verschwunden. Für einen Moment wirkte alles ganz heiter: Die Luft war still, der Wald lag friedlich da, und die Dezembersonne hing wie eine Laterne am Himmel.
Dann zerriss plötzlich ein Schrei die Stille.
Thomas legte sein Essen zur Seite und stand auf. Wieder ertönte ein Schrei. Es handelte sich um eine Frauenstimme, und sie kam aus Richtung des Gartens für Kinder. Sekunden später rannte er bereits den Pfad entlang, der zu den Bäumen führte. Für ihn bestand nicht der geringste Zweifel: Der Schrei hatte etwas mit dem Mädchen zu tun.
So schnell er konnte, rannte er in den Wald hinein. Der Weg, der unter den Zweigen entlangführte, lag einsam und dunkel vor ihm. Als er den Rand des Wäldchens erreichte, sah er die junge Mutter zusammengekrümmt mitten auf einer Lichtung kauern. Sie hielt eine Hand an den Magen gepresst und die andere ans Gesicht, während sie immer wieder einen Namen wiederholte: Abby.
Thomas blickte sich um.
Das Mädchen war verschwunden.
Er rannte zu der Frau und ging neben ihr in die Knie. An ihrer leuchtend roten Wange begann sich bereits ein scheußlicher Bluterguss abzuzeichnen. Sie starrte ihn mit einem wilden Ausdruck in den Augen an.
»Bitte!«, krächzte sie. »Sie haben sie mitgenommen. Sie haben meine Abby mitgenommen! Helfen Sie mir! «
Thomas’ Herz tat einen Satz. » Wer? « Er ließ den Blick über den Waldrand schweifen.
»Eine Frau mit einer Fotokamera«, antwortete die Mutter keuchend, während sie gleichzeitig aufzustehen versuchte, »und zwei Männer. Einer der beiden ist plötzlich von hinten auf mich losgegangen.« Sie deutete zu den Bäumen hinüber, die sie vom Parkplatz trennten. »Dann sind sie in diese Richtung davon! Tun Sie doch was! Bitte! «
In diesem Moment heulte ein Motor auf, und Thomas hörte das Geräusch von Autoreifen auf Kies. Er zögerte nur eine Sekunde, ehe er aufsprang und in den Wald stürmte. Obwohl ihm Zweige ins Gesicht schlugen und er einmal fast über einen heruntergefallenen Ast gestolpert wäre, sprintete er weiter.
Als er schließlich aus dem Wald auftauchte, konnte er gerade noch sehen, wie ein schwarzer Geländewagen in Richtung Norden aus dem Parkplatz bog. Rasch fischte er sein Handy aus der Tasche und wählte die Notrufnummer. Er wurde sofort verbunden.
»Hier ist jemand entführt worden«, erklärte er atemlos, während er mit der anderen Hand nach seinem Schlüssel tastete. »Im botanischen Garten, ein etwa zehnjähriges Mädchen. Ihre Mutter ist noch hier, und sie ist verletzt. Ich habe einen schwarzen Geländewagen gesehen, konnte aber das Kennzeichen nicht erkennen.«
Er beendete das Gespräch, ehe die Stimme am anderen Ende der Leitung Zeit hatte zu antworten. Eilig sprang er in seinen Wagen und ließ den Motor an. Nachdem er mit einem groben Ruck den Gang eingelegt hatte, bog er in einer engen Kurve auf die Zufahrtsstraße und brauste mit quietschenden Reifen hinaus auf den Eastern Boulevard. Doppelt so schnell wie erlaubt fuhr er gute anderthalb Kilometer in Richtung Middle River Loop, weil er hoffte, den Geländewagen dort zu entdecken, bevor er in eine andere Straße abbog. Doch von dem Auto fehlte jede Spur.
Nachdem er weitere anderthalb Kilometer in Richtung I-95 gerast war, ohne den
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