Du bist in meiner Hand
nahm Thomas seinen ganzen Mut zusammen.
»Priya kommt nicht. Sie hat mich vor drei Wochen verlassen.« So, nun war es endlich heraus.
Seine Mutter riss vor Schreck die Augen auf, fing sich aber schnell wieder. »Das hast du uns gar nicht erzählt«, bemerkte sie leise.
»Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.«
»Wo ist sie hin?«
Er holte tief Luft. »Nach Hause.«
Elena ging auf ihn zu, wobei sie zunächst ein wenig zögerte, sich dann jedoch ein Herz fasste. Er ließ sich widerstandslos von ihr umarmen.
»Uns war klar, wie schwer das für euch werden würde, aber wir hatten gehofft, es käme nicht so weit.« Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn wieder an. »Wie geht es dir?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist mir schon mal besser gegangen.«
Elena nickte. »Dein Vater ist im Arbeitszimmer.« Sie verdrehte die Augen. »Er liest gerade irgendeinen unverständlichen Wälzer über den Peloponnesischen Krieg.«
Thomas brachte ein Lächeln zustande. »Gibt es sonst noch was Neues?«
Er ging den Flur hinunter, vorbei an den Schulfotos aus seiner Kindheit, und betrat das Heiligtum seines Vaters. Der Raum hatte mehr von einer Bibliothek als von einem Arbeitszimmer. Der Richter saß in einem Ledersessel, ein Kissen auf dem Schoß und einen Füllfederhalter in der Hand. Das vor ihm liegende Buch wirkte überdimensional groß. Thomas sah, dass die Seitenränder mit zahllosen Anmerkungen vollgekritzelt waren. Der Richter kommentierte alles, was er las. Nachdem er den ganzen Tag lang über menschliche Schicksale urteilte, waren gesichtslose Autoren für ihn leichte Beute.
Er blickte zu seinem Sohn hoch. »Frohe Weihnachten, Thomas.«
»Frohe Weihnachten, Dad.« Verlegen blieb er vor ihm stehen.
Der Richter ergriff das Wort. »Ich habe mitbekommen, was du eben deiner Mutter erzählt hast. Lag es an Mohini, oder hat der Wharton-Fall Priya den Rest gegeben?«
Thomas verzog das Gesicht. Sein Vater nahm kein Blatt vor den Mund. »Ein bisschen von beidem, nehme ich an«, antwortete er, ohne zu erwähnen, dass es noch andere Punkte gab, die die Geschichte verkomplizierten.
»Sie hat den verdammten Fall von Anfang an nicht gemocht«, fuhr sein Vater fort.
»Es ist ja auch schwer, ein Unternehmen zu mögen, das ein Schulhaus voller Kinder auf dem Gewissen hat.«
Der Richter nickte und stand auf. »Das Fatale am Beruf des Prozessanwalts ist«, erklärte er, während er Thomas ins Esszimmer führte, »dass man sich seine Mandanten nicht immer aussuchen kann.«
»Priya hätte dir jetzt bestimmt widersprochen.«
»Ja«, pflichtete sein Vater ihm bei, »sie war immer schon eine Idealistin.« Er legte Thomas die Hand auf die Schulter. Nicht weit entfernt schlug die Uhr sieben. »Es tut mir leid. Das letzte halbe Jahr war wirklich nicht einfach für dich.«
»Danke, Dad.« Es rührte ihn, dass sein Vater ausnahmsweise einmal Gefühle zeigte.
Im Esszimmer trafen sie auf Elena, die gerade einen Korb voll dampfender Butterbrötchen auf den Tisch stellte. »Truthahn mit Füllung, Kartoffelbrei, Cranberries, Brokkoli, das ganze Programm«, versuchte sie die Stimmung zu heben. »Zwar haben Ted und Amy am Weihnachtsabend die komplette Füllung weggefuttert, aber ich habe neue gemacht.«
Es roch köstlich, und Thomas musste lächeln. Sein jüngerer Bruder arbeitete für eine Finanzfirma in New York und Teds Frau Amy als Model für etliche Modemagazine. Trotz ihrer hochtrabenden Berufe waren beide ziemlich bodenständig geblieben.
»Ich bin mir sicher, dass Ted sich dabei mehr ins Zeug gelegt hat als Amy«, bemerkte er.
Sein Vater lachte. »Dieses Mädchen sieht man eigentlich nie etwas essen.«
»Hört mal, es tut mir leid, dass ich nicht da war«, erklärte Thomas.
»Ist schon vergessen und vergeben«, meinte seine Mutter, »und jetzt lass es dir schmecken!«
Während des Essens versuchten sie das Gespräch auf unverfänglichere Themen zu lenken, doch noch ehe sie mit dem Hauptgang fertig waren, holten die schwerwiegenden Ereignisse der letzten Zeit sie wieder ein. Seine Mutter fragte Thomas, ob er von dem Tsunami im Indischen Ozean gehört habe.
»Sie haben im Radio darüber berichtet«, antwortete er.
»Deine Mutter klebt schon den ganzen Nachmittag am Fernseher«, erklärte der Richter.
»Das kann man sich gar nicht vorstellen«, meinte Elena kopfschüttelnd. »All diese Menschen …« Ihre Stimme zitterte vor Mitgefühl. »Wie kann so etwas nur passieren?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Thomas, der sich
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