Du bist in meiner Hand
einen einzigen Wunsch – ihre Umarmung zu erwidern. Er schlang die Arme um sie und vergrub das Gesicht in ihrem duftenden Haar.
Nachdem sie einander ein paar Sekunden lang festgehalten hatten, blickte Julia fragend zu ihm hoch. Er wusste, was für ein Moment das war – der Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gab. Obwohl in seinem Kopf plötzlich Alarmglocken schrillten, machte er keine Anstalten, sich aus der Umarmung zu lösen. Als Julia die Lippen auf die seinen presste, zog er den Kopf nicht zurück, und er sträubte sich auch nicht, als sie ihn daraufhin den Gang entlang zu ihrem Schlafzimmer führte. Für einen Moment ging ihm durch den Kopf, dass es sich mit Tera genauso abgespielt hatte. Aber das war ihm jetzt egal. Er wollte das. Er brauchte es.
Als sie das Schlafzimmer betraten, drehte Julia sich zu ihm um. Sie nahm ihn an beiden Händen und zog ihn zu sich heran, um ihn erneut zu küssen. In dem Moment sah er die Kerze auf der Kommode und den schweren Spiegel dahinter. Schlagartig brach die Erinnerung über ihn herein. Kerzenlicht vor reflektierendem Glas. Eine Flamme, die die Dunkelheit vertrieb. Priya auf dem Bett, die Arme erwartungsvoll nach ihm ausgestreckt. Ihre lustvolle Hingabe, der beglückende Höhepunkt. Die Nacht, in der Mohini gezeugt wurde.
Abrupt ließ er Julias Hände los.
»Ich kann das nicht«, flüsterte er.
Julia trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum nicht?«
Er holte tief Luft. »Ich bin verheiratet. Meine Frau ist in Bombay.«
Julia setzte sich aufs Bett und schlang die Arme um die Knie. Thomas rührte sich nicht von der Stelle. Er war ihr gegenüber nicht fair gewesen. Er hatte zugelassen, dass sich zwischen ihnen Gefühle entwickelten, obwohl jeder Narr hätte sehen können, auf was das hinauslief. Und nun, da sie ihre Gefühle offen zeigte, wies er sie zurück.
Schließlich brach Julia das Schweigen. »Wie heißt sie?«
»Priya.«
»Sie ist Inderin?«
»Ja. Aber sie hat den Großteil ihres Lebens im Westen verbracht.«
Das musste Julia erst einmal verdauen. »Liebst du sie?«, fragte sie dann.
Thomas brachte plötzlich kein Wort mehr heraus, sondern konnte nur nicken.
Julia wandte den Blick ab. Sie wirkte verlegen.
»Es tut mir leid«, sagte Thomas. »Ich hätte es dir sagen sollen.«
Langsam erhob Julia sich vom Bett.
»Ja«, bestätigte sie, »du hättest es mir sagen sollen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es einen Unterschied gemacht hätte.« Sie küsste ihn leicht auf die Wange. »Es wäre schön gewesen«, flüsterte sie.
Er schloss die Augen und stählte sich gegen den plötzlich fast übermächtigen Drang, alles andere zu vergessen und sie doch wieder in seine Arme zu reißen.
»Gute Nacht, Julia«, stammelte er, ehe er den Gang entlangflüchtete.
Auf die Couch zurückgekehrt, steckte er den Kopf unter sein Kissen, hörte aber immer noch das gedämpfte Ticken der Uhr. Wieder versuchte er zu schlafen, doch die Erinnerung an ihre Umarmung ließ ihn nicht los. Aus Minuten wurden Stunden. Als endlich der Morgen graute, empfand Thomas das regelrecht als Befreiung.
Er duschte rasch und packte seine Sachen, während Julia Kaffee machte und frische Croissants für ihn holte. Beim Frühstück sprachen sie über belanglose Themen. Als sie fertig waren, begleitete sie ihn die drei Straßen bis zur Metro-Station. Vor den Drehkreuzen blieben sie stehen und sahen sich an. Einen Moment später brach Julia den Bann, indem sie ihn umarmte.
»Das mit Sita tut mir leid«, sagte sie.
»Wir haben getan, was wir konnten. Jemand anderer hätte es auch nicht besser machen können.«
Sie warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Vielleicht hat Andrew ja mehr Glück.«
»Wer weiß.« Er schwieg einen Moment, ehe er hinzufügte: »Pass gut auf dich auf, Julia.«
Sie lächelte auf die für sie typische, lässige Art. »Sieh zu, dass du nach Hause kommst, Thomas.«
Er nickte, erstaunt über ihre Worte. Dann wandte er sich um und eilte davon.
Er fuhr mit einem RER-Zug zum Flughafen Charles de Gaulle und stieg pünktlich in die Air-France-Maschine, die an diesem Vormittag in Richtung Bombay abflog. Da er sich nach seiner schlaflosen Nacht ziemlich erschöpft fühlte, zog er die Jalousie herunter und versuchte zu schlafen, was ihm jedoch wieder nicht gelang.
Als er es schließlich leid wurde, holte er Ahalyas Foto heraus. Wohl zum hundertsten Mal lächelte Sita ihm von dem Bild entgegen – ein Kind, das bereits ein wenig mit dem
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