Du bist in meiner Hand
mit Ihnen gekommen.«
»Nein.«
Thomas ließ sich auf der Bank nieder und ließ den Blick über die Bäume schweifen. Irgendwo in den Ästen über seinem Kopf zwitscherte ein Vogel.
»Der Mann, der sie Suchir abgekauft hat, ist mit ihr nach Frankreich gereist«, begann er. »Dort hat sie die vergangenen zwei Monate in einem Restaurant gearbeitet. Die Polizei von Bombay hat den Mann erwischt, dann aber nicht schnell genug gehandelt. Vor ein paar Tagen wurde Sita in die Vereinigten Staaten gebracht. Niemand weiß, wohin oder warum.«
Ahalya begann zu schluchzen. Thomas holte tief Luft. Er fragte sich, ob Schwester Ruth mit ihren Bedenken womöglich recht gehabt hatte. Vielleicht hätte er doch nicht herkommen sollen.
Während er Ahalyas zaghaft austreibende Lotuspflanze betrachtete, überlegte er krampfhaft, wie er das Mädchen wieder aufmuntern könnte.
»Ich habe dein Foto an meinen Freund im Justizministerium geschickt«, erklärte er schließlich. »Ich habe ihm gesagt, dass Sita in den USA ist. Ich bin mir sicher, dass er das FBI verständigen wird. Es werden jede Menge Leute nach ihr Ausschau halten.«
Ahalya starrte erneut aufs Wasser, gewann aber langsam ihre Fassung zurück. Schließlich wandte sie sich wieder Thomas zu.
»Ich habe eine Nachricht für Ihren Freund«, flüsterte sie.
Thomas nickte. »Ich werde sie an ihn weiterleiten.«
Ahalya legte eine Hand auf ihren Bauch. »Richten Sie ihm aus, dass inzwischen zwei auf Sita warten.«
Mit diesen Worten erhob sie sich und eilte den Weg zum Schulhaus hinauf.
Mit fragendem Blick drehte Thomas sich nach Schwester Ruth um.
Die Nonne kam ihm zuvor. »Sie ist ein tapferes Mädchen. Die meisten anderen hätten es Ihnen nicht gesagt.«
»Was denn?«
»Sie ist schwanger.«
Er schnappte nach Luft. »Von einem Mann aus dem Bordell?«
Die Nonne nickte. »Das kommt sehr häufig vor. Wir hat ten allerdings gehofft, sie hätte Glück gehabt, weil sie noch nicht lange dort war.«
Für einen Moment drehte sich ihm alles. »Sie will das Baby behalten?«
Schwester Ruth sah ihn entrüstet an. »Es ist ein Leben«, entgegnete sie in ziemlich barschem Ton. Dann fügte sie etwas freundlicher hinzu: »Dieses Kind ist im Moment das Einzige, was Ahalya das Gefühl gibt, doch noch so etwas wie eine Familie zu haben.«
Thomas sah Ahalya zwischen den Bäumen verschwinden. In ihrem blassgrünen Churidar und den leichten Sandalen wirkte sie wie jede andere Inderin in ihrem Alter. Sie war eine hübsche, kluge und gebildete junge Frau. Vor dem Tsunami hatte eine strahlende Zukunft auf sie gewartet – das College, die Universität, zumindest jedoch eine vorteilhafte Heirat. Inzwischen aber war sie schwanger von einem Mann, der sie vergewaltigt hatte. Mochten ihr ursprünglich auch alle Möglichkeiten offengestanden haben, so lag ihre ehemals so strahlende Zukunft nun in Trümmern.
»Glauben Sie, man wird Sita finden?«, fragte die Nonne.
»Möglich ist es«, antwortete er, »aber eher unwahrscheinlich.«
Schwester Ruth bekreuzigte sich. »Manchmal verstehe ich die Wege Gottes einfach nicht.«
»Dann sind wir ja schon zu zweit.«
Zum Glück dauerte der Flug nach Goa nicht lang. Priya hatte in Agonda, weit südlich der Touristenmassen von Nord-Goa, ein ruhiges Zimmer für sie gebucht. Thomas erzählte ihr kaum etwas über seine Begegnung mit Ahalya, und ausnahmsweise legte sie auch gar keine Neugierde an den Tag. Da er sie schon lange nicht mehr so fröhlich erlebt hatte, wollte er ihr auf keinen Fall die Laune verderben.
Die Taxifahrt nach Agonda Beach nahm den Großteil des Nachmittags in Anspruch. Thomas ließ das Fenster herunter. Die vorbeiziehende Landschaft, die Bungalows und Eukalyptushaine lenkten ihn ab. Schlagartig fühlte sich die Last, die auf ihm lag, nicht mehr ganz so schwer an. Er schaffte es, nicht mehr an Ahalyas Baby, die Suche nach Sita und das Armband an seinem Handgelenk zu denken. Ganz zu schweigen von den Lügen, die er seiner Frau in Bezug auf Tera und die Kanzlei aufgetischt hatte. Sein einziger Trost war die Tatsache, dass er sich in Paris beherrscht hatte. Er war im Schlafzimmer einer schönen Frau gelandet und hatte der Versuchung dennoch widerstanden.
Kurz nach vier Uhr nachmittags bog das Taxi in eine ungeteerte, von Läden und Strandhütten gesäumte Straße ein. Ganz am Ende der Reihe setzte der Fahrer sie ab. Wie sich herausstellte, war ihre Unterkunft genau so, wie im Katalog angepriesen: sauber, einfach und nah am Meer.
Der
Weitere Kostenlose Bücher