Du bist in meiner Hand
übrigen Mädchen die zwölfte Klasse besuchte.
Wie üblich hing sie währenddessen ihren Gedanken an die Vergangenheit nach. Sie rief sich alle möglichen Einzelheiten genauestens ins Gedächtnis und konzentrierte sich auf Gesichter und persönliche Eigenarten, bis sie die Bewohner ihrer erinnerten Welt fast wieder leibhaftig vor sich sah. Sie versetzte diese Menschen in ihrer Vorstellung in die Zukunft, die sie eigentlich hätten haben sollen, und stellte sich ihre Mutter mit altem, faltigem Gesicht vor oder malte sich aus, was für eine Freude ihr Vater gehabt hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, sie, Ahalya, eines Tages als glückliche Braut zu erleben. Am liebsten aber stellte sie sich vor, wie Sita wohl als erwachsene Frau aussähe. Dabei ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf und verlor jedes Zeitgefühl. Mittlerweile klinkte Ahalya sich so oft aus dem Unterricht aus, dass die Schwestern im Ashram sie deswegen bereits rügten.
»Ahalya«, wandte sich Schwester Elizabeth nun mit zusammengekniffenen Augen an sie, »wie lautet denn der Sinus von neunzig Grad?«
»Eins«, antwortete Ahalya wie aus der Pistole geschossen.
»Und der Cosinus von hundertachtzig Grad?«
»Minus eins.« Vor ihrem geistigen Auge hatte sie die Kurvenfunktionen sofort parat.
Mit einem leisen Seufzen wandte sich Schwester Elizabeth wieder der Tafel zu.
Um Viertel vor neun stand plötzlich Schwester Ruth in der Tür. Die Schülerinnen, die sich fragten, was wohl der Grund für das unerwartete Auftauchen ihrer Direktorin war, starrten sie perplex an.
»Ahalya«, sagte Schwester Ruth, »bitte komm mit mir.«
Verwirrt stand Ahalya auf und folgte Schwester Ruth, die mit ihr das Schulhaus verließ und sie den Pfad zum Eingang des Ashrams entlangführte, ohne dabei auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Mit jedem Schritt wuchs Ahalyas Verwirrung. Diese plötzliche Wortkargheit sah Schwester Ruth gar nicht ähnlich.
Als sie den Teich erreichten, in dem Ahalya ihren Lotus gepflanzt hatte, blieb Schwester Ruth stehen und deutete auf die Bank.
»Warte hier«, sagte sie. »Du hast Besuch.«
»Wer ist es?«, fragte Ahalya, die zugleich freudige Erregung und Angst empfand. Anita von CASE kam immer am Dienstag, nicht am Donnerstag. Demnach handelte es sich um einen besonderen Besucher.
Schwester Ruth gab ihr keine Antwort. Stattdessen drehte sie sich um und verschwand in Richtung Eingangstor. Während Ahalya sich auf der Bank niederließ, versuchte sie das ständige Gefühl von Übelkeit zu ignorieren, das sie schon seit Wochen quälte. Nachdenklich betrachtete sie ihre Lotuspflanze. Der Tontopf war unter der Wasseroberfläche deutlich zu sehen. Über ihm hatten sich zwei Blätter gebildet, aber für eine Blüte war es noch viel zu früh im Jahr. Ahalya beugte sich hinunter und berührte die Wasseroberfläche. In dem Topf steckte Leben. Der Lotus würde blühen. Er musste allein schon deswegen blühen, weil Sitas Geist in ihm wohnte.
Wachse!, beschwor sie im Stillen die Pflanze. Du bist der Grund, warum ich morgens aufstehe.
Mit ungewohnt ernster Miene nahm Schwester Ruth Thomas vor dem Tor des Ashrams in Empfang.
»Jeff Greer hat telefonisch Ihren Besuch angekündigt.« Sie warf einen Blick zu Priya hinüber, die im Taxi sitzen geblieben war.
»Haben Sie Neuigkeiten für Ahalya?«
Thomas nickte.
»Geht es um Sita?«
»Ja«, gestand er.
»Falls es sich um etwas Schlimmes handelt, sollte Ahalya es nicht hören. Ihr Zustand ist nicht sehr stabil.«
»Es sind teils gute, teils schlechte Nachrichten.« Er zupfte an dem Rakhi -Band herum, das er am Handgelenk trug. »Ich bin ihr die Wahrheit schuldig. Ich glaube, sie würde gern hören, was ich ihr zu sagen habe.«
Die Nonne überlegte einen Moment und nickte dann. »Sie hat einen starken Willen. Sie spricht von nichts anderem als von ihrer Schwester. Das heißt, wenn sie überhaupt spricht.«
»Ich brauche nur fünf Minuten«, erklärte er.
Die Nonne öffnete das Tor. »Sie ist am Teich.«
Als sie näher kamen, hob das Mädchen, das bis dahin ins Wasser gesehen hatte, erwartungsvoll den Kopf. Bei Thomas’ Anblick weiteten sich ihre Augen. Sie stand auf und ging ihm entgegen.
»Sie sind zurückgekehrt«, stellte sie fest. »Demnach haben Sie Neuigkeiten über Sita.«
Als er ihr daraufhin in die Augen sah, spürte Thomas das ganze Ausmaß ihres Verlusts. »Vielleicht sollten wir uns setzen«, sagte er und deutete auf die Bank.
Ahalya verschränkte die Arme. »Sie ist nicht
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