Du bist in meiner Hand
Erwachsenwerden kokettierte. Sie war all das, was er sich für Mohini erträumt hatte. Der Gedanke erschien ihm wie eine Erleuchtung. War es das, was ihn nach Frankreich getrieben hatte? Hörte er den Schatten seiner verlorenen Tochter von einem Leben flüstern, das noch gerettet werden konnte?
Eine halbe Stunde vor Mitternacht landete die Maschine in Bombay. Über der dunklen Stadt hing eine schwere Wolke aus Smog und Feuchtigkeit. Selbst mitten in der Nacht war die Luft nur wenige Grade kühler als tagsüber. Er hatte sich mit Priya am Gepäckausgabeband verabredet, wo sie ihn mit einer Umarmung überraschte.
»Schön, dass du wieder da bist«, begrüßte sie ihn. Ihre Augen glänzten. »Du hast mir gefehlt.«
»Wirklich?« Der Trost, den er in ihrer Gegenwart empfand, überraschte ihn selbst.
Sie nickte und griff nach seiner Hand. »Ich habe etwas für dich.« Sie fasste in ihre Tasche und holte zwei Flugtickets heraus.
»Goa«, stellte er erfreut fest.
»Wir fliegen übers Wochenende weg. Ich muss mal raus aus dieser Stadt.«
Sie sah ihn derart erwartungsvoll an, dass er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
»Eine ausgezeichnete Idee.« Er empfand plötzlich eine große Zärtlichkeit für sie. »Du siehst sehr schön aus«, bemerkte er.
Priya blinzelte überrascht, weil er so abrupt das Thema gewechselt hatte. Dann musste auch sie grinsen. »Lass uns von hier verschwinden.« Mit diesen Worten zog sie ihn in Richtung Ausgang.
Sie verbrachten die Nacht in Dineshs Wohnung in Bandra. Der junge Banker war auf Geschäftsreise, sodass Thomas in seinem Zimmer schlafen konnte. Nach ihrer herzlichen Umarmung am Flughafen hoffte Thomas, dass Priya ihm Gesellschaft leisten würde, aber so viel Glück war ihm nicht vergönnt. Nach einer erneuten Umarmung zog sie sich mit einem scheuen Lächeln ins Gästezimmer zurück.
Auch in dieser Nacht schlief er schlecht. Gegen drei Uhr morgens erwachte er mit der unsinnigen Angst, dass Mohini im Nebenzimmer lag und gerade erstickte. Voller Panik blickte er sich um. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, wo er sich befand. Danach konnte er nicht mehr einschlafen. Er dachte an den Jogeshwari-Fall. Die Rettung Ahalyas. Die Suche nach Sita. Priya, die nebenan friedlich schlief. Die Verheißung von Goa. Wie war es möglich, dass er auf diesem Planeten dreißig Jahre verbracht und zwei akademische Abschlüsse erworben hatte, um am Ende mit mehr Fragen als Antworten dazustehen?
Am Morgen traf er Priya im Nachthemd auf der Terrasse an, eine dampfende Tasse Chai in der Hand. Trotz der frühen Stunde brannte die Sonne bereits vom Himmel, aber die kühle Brise, die vom Meer herüberwehte, brachte ein wenig Linderung.
»Du siehst müde aus«, stellte sie fest, während sie sich auf einem der Liegestühle niederließ.
»Ich habe nicht viel Schlaf gefunden«, gestand er und rieb sich die Augen.
»Wegen Sita?«
Thomas zog es vor, es bei dieser Erklärung zu belassen, und nickte bloß.
»Dinesh hat eine schöne Wohnung«, bemerkte Priya.
»Ja, er kann ziemlich stolz auf sich sein.«
»Er scheint sich in Bombay heimisch zu fühlen.« Ihre Stimme klang eine Spur wehmütig.
»Ist das bei dir denn nicht so?«
»Das hängt von meiner Tagesform ab.«
»Würdest du gern für immer hier leben?«, fragte er nach, um herauszufinden, in welche Richtung ihre Pläne gingen.
»Ich weiß nicht so recht. Du?«
Er zuckte mit den Schultern, weil er sie nicht anlügen wollte. »Ich weiß es auch nicht.«
Gähnend stand sie auf. »Komm«, sagte sie und strich dabei mit den Fingerspitzen leicht über seine Hand, »wir müssen uns fertig machen.«
»Ich habe vor unserer Abreise noch etwas zu erledigen«, erklärte er.
Erstaunt sah sie ihn an. »Wir fliegen doch schon mittags.«
»Es liegt auf dem Weg. Ich muss nur noch schnell einen Anruf tätigen.«
Im Schulhaus des Ashrams saß Ahalya an ihrem Pult und starrte ins Leere. Es war halb neun Uhr morgens, und ihre Lehrerin – Schwester Elizabeth – erklärte gerade die Sinus- und Cosinus-Funktionen, sehr zum Leidwesen der anderen Mädchen. Im Gegensatz zu ihnen beherrschte Ahalya den Stoff bereits. Sie hatte sich die Grundlagen der Trigonometrie bereits ein Jahr zuvor in St. Mary’s angeeignet. Die Privatlehrerin, die CASE für sie organisiert hatte, forderte sie zwar mit einem anspruchsvolleren Unterricht, kam jedoch nur am Montag und Mittwoch. An allen anderen Tagen bestanden die Ordensschwestern darauf, dass Ahalya zusammen mit den
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