Du bist in meiner Hand
Wort.
Die energische Stimme antwortete. »Du kannst ja weglaufen, wenn du willst. Aber du riskierst deine Haut. Nach meinem letzten Versuch haben sie Zigaretten auf mir ausgedrückt.«
Sita schloss die Augen, weil sie plötzlich gegen einen starken Würgereiz ankämpfen musste. Der Raum stank nach Schweiß und getrocknetem Urin. Sie griff in ihre Manteltasche, nahm Hanuman in die Hand und begann zu weinen. Verzweifelt versuchte sie, sich die Bilder und Geräusche der Koromandelküste ins Gedächtnis zu rufen, doch die schönen Erinnerungen entglitten ihr immer wieder. Stattdessen sah sie Suchir, Navin, Dmitri, Igor und die imaginären Gesichter der Lastwagenfahrer, die gegen Bezahlung Sex mit den Mädchen gehabt hatten.
Erschöpft lehnte sie den Kopf gegen eine Wand und massierte ihre Arme, um sich ein wenig aufzuwärmen. Ihr ganzer Körper fühlte sich verkrampft an, und sie hatte keine Ahnung, wie sie in dieser unbequemen Position schlafen sollte. Nach einer Weile drehte sich das Mädchen neben ihr um, und der Zipfel einer Decke fiel auf Sitas Hand. Langsam zog sie sich den Rand der Decke über die Knie und fror gleich nicht mehr ganz so schlimm. Als ihre Nachbarin sich erneut bewegte, kam ihr Arm auf Sitas Bein zu liegen.
Mit einem tiefen Atemzug schloss Sita die Augen.
Sie würde die Nacht schon irgendwie überstehen.
27
Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.
OSCAR WILDE
Paris – Frankreich
Thomas und Julia lösten Fahrkarten für den TGV, der am Spätnachmittag zurück nach Paris gehen sollte. Thomas entdeckte in Quimper ein Internetcafé und buchte für den nächsten Morgen einen Flug nach Bombay. Vom Bahnhof aus sandte er zwei E-Mails ab, die erste an Andrew Porter, um ihn darüber zu informieren, dass Sita in die USA verkauft worden war, und die zweite an Jeff Greer, dem er versprach, am Montag wieder im Büro zu erscheinen. Danach rief er Priya an und gab ihr seine Ankunftszeit durch. Als schließlich ihr Zug aufgerufen wurde und er in den TGV stieg, versuchte er jeden Gedanken an sein Scheitern zu verdrängen.
Auf Julias Einladung hin verbrachte er die Nacht in ihrer kleinen Wohnung im fünfzehnten Arrondissement. Sie bot ihm ihr Sofa an, auf dem er sich jedoch schlaflos hin und her wälzte, weil er einfach nicht abschalten konnte. Ihm war klar, dass die Zeit gegen ihn arbeitete: Mit jeder Minute, die verging, entfernte sich Sita weiter von ihm. Er überlegte, ob er nicht besser in eine Maschine nach Washington steigen und sich mit Andrew Porter treffen sollte, wusste jedoch, dass er sich das im Grunde sparen konnte. Zum einen verfügte er über keinen zuverlässigen Hinweis, zum anderen hätte er dort nur sehr beschränkten Zugang zu Informationen aus dem Justizministerium.
Irgendwann nach Mitternacht stand er auf und tigerte nervös im Zimmer auf und ab. Er hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen, und gleichzeitig quälte ihn eine unbestimmte Angst. Um sich abzulenken, ging er in die Küche hinüber und öffnete den Kühlschrank, merkte jedoch beim Anblick der Lebensmittel, dass er überhaupt keinen Hunger hatte. Wieder im Wohnzimmer, blickte er auf die Lichter von Paris hinaus. Unter normalen Umständen hätte der Anblick ihn berührt, doch in dieser Nacht war er so von Sorgen erfüllt, dass er dafür gar kein Auge hatte.
Wo bist du, Sita Ghai?, dachte er. Wo haben sie dich nun wieder hingebracht?
Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter und wandte sich um. Vor ihm stand Julia, nur mit Hemdchen und Slip bekleidet. Obwohl ihr Gesicht im Schatten lag, sah er, dass aus ihren Augen tiefes Mitgefühl sprach. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte sie leise.
»Es ist mir schon mal besser gegangen«, antwortete er.
Sie lehnte sich an ihn und legte den Kopf an seine Brust. »Ich weiß, wie du dich fühlst«, flüsterte sie, während sie gleichzeitig die Arme um ihn schlang. »Mir ist es genauso gegangen, als ich damals meine Schwester verloren habe.«
Thomas stand stocksteif da, erstarrt in einem Zustand der Unentschlossenheit. Er musste an Priya denken, die ihn in Bombay erwartete, Tausende von Kilometern entfernt. Er dachte an Cambridge und Charlottesville und Georgetown, an all die Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten. Aber er hatte der entwaffnenden Macht von Julias Wärme nicht genug entgegenzusetzen. Seine Gegenwehr erlahmte, bis sein Verstand und sein Herz schließlich verschmolzen, in Brand gesetzt durch
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