Du bist in meiner Hand
erinnerte sich noch gut daran, wie erschöpft sie wirkte, als sie damals in der Küche stand und ihm vom Anruf ihres Bruders erzählte. Er selbst hatte zu dem Zeitpunkt gerade die ersten drei Tage des Wharton-Prozesses hinter sich und stand permanent unter Strom. Als sie ihm das One-way-Ticket der Air India zeigte, reagierte er ungehalten und beschuldigte sie, ihn im Stich zu lassen. Er erinnerte sich an die Wut, die plötzlich in ihren Augen gelodert hatte. »Wie kannst du das sagen?«, hatte sie gefragt. »Du bist doch derjenige, der mich im Stich gelassen hat.«
Dinesh nahm einen Schluck von seinem Bier. »Das erklärt, warum Priya hier ist. Aber was ist mit dir?«
Thomas holte tief Luft. »Ich brauchte mal eine Auszeit von der Arbeit. Die Kanzlei hat mir ein Sabbatjahr genehmigt.« Er sah, wie sein Freund die Augen zusammenkniff, und konnte sich genau vorstellen, was er in dem Moment dachte: Warum wohnst du dann bei mir? Er beschloss, die Lüge mit einem Bröselchen Wahrheit zu würzen. »Zwischen Priya und mir läuft es gerade nicht so gut. Deswegen habe ich mich mit dir in Verbindung gesetzt.«
Dinesh musterte ihn einen Moment eindringlich, ehe er achselzuckend antwortete: »Das tut mir leid. Du bist herzlich willkommen, so lange zu bleiben, wie du magst.« Dann wechselte er das Thema. »Du hast in deiner Mail eine Organisation namens CASE erwähnt. Von der habe ich bisher noch nie etwas gehört.«
Thomas, der angespannt die Luft angehalten hatte, atmete aus. »Es handelt sich dabei um eine Organisation, die unentgeltlichen Rechtsbeistand leistet. Sie kämpft speziell gegen Zwangsprostitution in den Entwicklungsländern.«
Dinesh trank seinen letzten Schluck Bier. »Da gibt es in Bombay bestimmt eine Menge zu tun.«
Sie plauderten noch eine Weile im entspannten Ton alter Freunde, erinnerten sich an ihre gemeinsamen Jahre in Yale, tauschten Geschichten über ehemalige Freundinnen aus und lachten über Streiche, die sie – insbesondere Dinesh – ihren Kommilitonen gespielt hatten. Dineshs Humor und unwiderstehliche gute Laune sorgten dafür, dass Thomas seiner Zeit in Bombay schließlich sogar mit einem gewissen Optimismus entgegenblickte. Selbst wenn nichts anderes dabei herauskam, würde er es zumindest genießen, wieder mit seinem Freund zusammenzuwohnen.
Nach einer Weile gähnte Dinesh und streckte sich ausgiebig. »Ich glaube, ich gehe ins Bett«, verkündete er, während er mit seiner leeren Bierflasche in der Hand aufstand. »Es ist schön, dich hier zu haben.«
Thomas erhob sich ebenfalls. »Wenn es dir nichts ausmacht, bleibe ich noch eine Weile hier draußen. Mein Körper meint immer noch, es ist Tag.«
Dinesh lachte. »Kein Problem. Wir sehen uns morgen früh.«
Thomas holte sein BlackBerry heraus und schickte seiner Mutter und Andrew Porter je eine Mail mit der Nachricht, dass er gut angekommen sei. Danach trat er ans Geländer und blickte in Richtung Norden, zum Strand von Juhu hinüber. Seine Gedanken wanderten zu Priya. Er fragte sich, ob sie schon schlief oder genau wie er irgendwo auf einer Terrasse stand und aufs Meer hinausblickte.
Während er die salzige Luft tief einatmete, versuchte er sich Priyas Kindheit vorzustellen. Dass sie aus sehr privilegierten Kreisen stammte, war ihm nie ganz real erschienen. Sie war in eine Familie von Immobilien-Magnaten hineingeboren worden, die ursprünglich aus Gujarat stammten und sich bereits in der Stadt niedergelassen hatten, als die Briten noch damit beschäftigt waren, dem Meer Land abzuringen. Priyas Großvater gehörte rund ein Viertel aller Wohnungen im südlichen Bombay und darüber hinaus diverse Immobilien auf der ganzen Welt.
Mit anderen Eltern wäre Priya vielleicht verwöhnt und hochnäsig geworden, aber ihr Vater zog ein asketisches Leben in Cambridge dem Luxus vor, der ihm eigentlich von Geburt wegen zugestanden hätte. Professor Patel hatte seine Familie nach England verpflanzt, als Priya noch ein Teenager war, sodass sie die prägenden Jahre ihrer Jugend auf dem altehrwürdigen Universitätscampus verbracht hatte.
In Cambridge hatte sie sich dann auch als Studentin der Kunstgeschichte eingeschrieben und dort ein Jahr vor ihrem Abschluss den Yale-Studenten Thomas kennengelernt, der als Austauschstudent ein Sommersemester in England verbrachte. Er konnte sich noch genau an die Vorlesung erinnern, die ihr Vater damals am King’s College hielt, und an den Schirm, den sie dort liegen ließ. Ihre Zerstreutheit hatte ihm einen Grund
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