Du bist in meiner Hand
würde, doch der Außenstellenleiter zog es vor, während der ganzen Fahrt zu schweigen. Da es im Taxi extrem heiß war, ließ Thomas in der Hoffnung auf eine kühle Brise sein Fenster herunter. Die Stadtluft war von Smog verpestet und roch nach verbranntem Gummi, aber der wohltuende Lufthauch machte den Gestank wieder wett.
Zwanzig Minuten später verließ ihr Taxi die Schnellstraße und bog nach Westen in eine belebte Geschäftsstraße ein. Der Fahrer redete in schnellem Marathi auf Greer ein, offenbar versuchte er ihn von etwas zu überzeugen, doch der brachte ihn mit erhobenen Händen und einer ruhigen, entschiedenen Antwort zum Schweigen. Dann reichte er dem Taxi- Walla einen Hundertrupienschein und erteilte ihm ein paar knappe Anweisungen. Ohne ein weiteres Wort steckte der Fahrer das Geld ein.
Sie bogen in eine Nebenstraße und von dort in immer schmalere Straßen. Plötzlich war die Erste-Welt-Stadt mit ihren belebten Gehsteigen und bunten Plakaten verschwunden, und stattdessen tat sich in einem Gewirr aus ungeteerten Straßen, baufälligen Gebäuden, Ochsengespannen, Kühen und Straßenkindern die Dritte Welt vor ihnen auf.
Greer sagte ein paar Worte zu ihrem Taxi- Walla und reichte ihm erneut Geld, woraufhin das Taxi sein Tempo verlangsamte und in eine ungeteerte Straße bog, in der sich heruntergekommene Häuser und mehrstöckige Chawls mit klapprigen Balkonen aneinanderreihten. Abgesehen von ein paar Radfahrern und Verkäufern mit Handkarren war dort so gut wie kein Verkehr. Die Fußgänger und Autos, die sich eben noch in den Straßen gedrängt hatten, schienen diese hier zu meiden, was die Gegend auf eine gespenstische Art verlassen wirken ließ.
»Nun befinden wir uns in Kamathipura«, erklärte Greer, »dem größten Rotlichtbezirk von Mumbai.«
Plötzlich betrachtete Thomas seine Umgebung mit ganz anderen Augen. Auf einmal waren die alten Männer, die sich im Schatten ausruhten, keine behäbigen Senioren mehr, sondern Bordellbesitzer. Bei den jungen Männern, die rauchend in den dunklen Hauseingängen herumhingen, handelte es sich nicht um Obdachlose, sondern um Zuhälter, und die Frauen, die in den Gängen und Küchen den Besen schwangen, waren keine Hausfrauen, sondern Puffmütter.
»Wo sind die Mädchen?«, fragte Thomas, dem auffiel, dass keine jungen Frauen zu sehen waren.
»Manche schlafen. Andere sind mit Hausarbeiten beschäftigt. Sie dürfen das Bordell nur in Begleitung einer Gharwali verlassen. So nennt man hier eine Puffmutter.«
Greer deutete auf die oberen Stockwerke der Gebäude, an denen sie vorbeikamen. »Die minderjährigen Mädchen sind dort oben, versteckt in irgendwelchen Dachzimmern. Sie sind praktisch unsichtbar. Ohne unsere Ermittler, die hier jeden Winkel kennen, würden wir sie niemals finden.«
Das Taxi beschleunigte, doch Greer tippte dem Fahrer auf die Schulter und reichte ihm weitere Rupien.
»Er ist nervös, weil wir Weiße sind«, erklärte Greer. »Die Taxi- Wallas bekommen von den Zuhältern Baksheesh – Trinkgeld –, damit sie Freier herfahren, und die Zuhälter wissen von CASE . Wenn ihn welche von denen mit uns sehen, schadet das seinem Geschäft.«
Als sie fast das Ende der Straße erreicht hatten, sah Thomas dort einen jungen Mann mit dunklen Augen, dessen Gesprächspartner, ein älterer, weißhaariger Mann, ihnen den Rücken zukehrte. Beim Anblick des Taxis und seiner Insassen wurden die Augen des jungen Mannes schmal. Er bedachte den Walla mit einem strengen Blick, der diesem sichtlich Angst einjagte.
Von einer Sekunde auf die andere verlor der Fahrer jegliches Interesse daran, die Besichtigungsfahrt fortzusetzen. Er berührte den Hamsa-Glücksbringer, der von seinem Rückspiegel baumelte, und begann nervös vor sich hin zu plappern. Greer versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Der Mann verließ Kamathipura, so schnell er konnte, und setzte sie ein paar Häuserblocks weiter an einer Straßenecke ab.
»Wir finden bestimmt ein anderes Taxi«, meinte Greer, während sie zwischen den Straßenhändlern den Gehsteig entlanggingen.
Thomas fühlte sich äußerst unbehaglich. Sie beide waren die einzigen Weißen weit und breit. Drei bettelnde Kinder stellten sich Thomas in den Weg und bedeuteten ihm mit den Händen, dass sie Hunger hatten. Als Thomas nicht reagierte, packten sie ihn am Arm und versuchten, in seine Tasche zu greifen. Bei dem Versuch, sie abzuschütteln, wäre er beinahe über einen Blinden gefallen, der neben einem brennenden
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