Du bist in meiner Hand
unberührt. Sita brauchte sie als Bollwerk gegen die Schrecken, die sie erwarteten.
Sie durfte nicht verzweifeln.
6
Die Schlacht von Bombay ist die Schlacht
des Individuums gegen die Menge.
SUKETU MEHTA
Irgendwo über Südasien
Als Thomas aufwachte, hatte er keine Ahnung, wie spät es war. Beim Blick auf seine Armbanduhr begriff er, dass sie immer noch Washingtoner Zeit anzeigte. In der Boeing 777 war es dunkel, und die meisten Passagiere der Business Class schliefen. Er musste eigentlich auf die Toilette, aber der Fluggast neben ihm hatte seinen Sitz ganz ausgezogen und schlief tief und fest, sodass der Weg zum Mittelgang versperrt war.
Thomas schob die Jalousie hoch. Die untergehende Sonne ließ schneebedeckte Berge in Ocker- und Hennatönen leuchten. Afghanistan, dachte er. Aus gut zehntausend Metern Höhe betrachtet, erinnerte ihn das vom Krieg zerrissene Land an Colorado. Seine Schönheit war überwältigend, streng und gelassen zugleich.
Zum hundertsten Mal fragte sich Thomas, warum er das eigentlich tat. Die naheliegendste Antwort – dass er durch seine Schuldgefühle und die äußeren Umstände in diese Richtung gelenkt worden war – traf nicht zu. Wäre dem so gewesen, hätte er nämlich genauso gut in einem Flugzeug nach Bora Bora, Amsterdam oder Schanghai sitzen können. Tatsächlich aber befand er sich nur noch zwei Stunden von Bombay entfernt, und seine Aktentasche war vollgestopft mit allem, was er an Regierungsberichten, wissenschaftlichen Studien und Zeitungsausschnitten über die weltweite Krisensituation im Bereich Zwangsprostitution in die Finger bekommen hatte.
Seine Abreise war in Windeseile über die Bühne gegangen. Zaudern entsprach nicht seinem Naturell. Am Anfang stand ein Mittagessen mit Ashley Taliaferro, der Leiterin der Auslandseinsätze von CASE , eingeschoben zwischen die Besprechungen, die sie auf dem Capitol Hill mit Unterstützern aus dem Kongress vereinbart hatte. Als Nächstes stellte er einen Antrag auf ein Visum, der dank Max Junger im Eiltempo bearbeitet wurde. Dann unternahm er einen Ausflug ins Einkaufszentrum, um die nötige Reiseausrüstung zu erstehen. Er frischte seine Impfungen auf. Er sorgte dafür, dass das Clayton-Stipendium zur Deckung seiner Ausgaben möglichst schnell auf seinem Konto landete. Nebenbei wechselte er diverse Mails mit Dinesh, seinem ehemaligen Zimmergenossen aus Yale, dessen wiederholte Einladung, ihn doch endlich mal in Bombay zu besuchen, er nun annahm. Außerdem las er, und zwar unaufhörlich – in der Metro, beim Anstehen an der Kasse und auch zu Hause, wenn er nicht gerade am Computer saß und im Internet recherchierte.
Er betrat damit eine ebenso befremdliche wie beunruhigende Welt, eine Art unterirdisches Reich, bewohnt von Zuhältern und Menschenhändlern, korrupten Beamten, unermüdlich kämpfenden Anwälten und einem scheinbar endlosen Vorrat an Frauen und Kindern, die gefangen, brutal misshandelt und dann in Sklaven verwandelt wurden. Thomas fragte sich, wie Andrew Porter damit klarkam – mit den Gesichtern, Namen und Geschichten, die ebenso vielfältig waren wie die menschliche Grausamkeit. Nun würde er selbst ebenfalls in diese Welt eintauchen. Von den vielen für den Handel mit Menschen bekannten Städten war Bombay eine der schlimmsten.
»Du wirst was tun?«, hatte seine Mutter gefragt, als Thomas zwischen zwei Terminen endlich Zeit fand, sie anzurufen. »Aber das ist gefährlich, Thomas. Dir könnte etwas passieren. Ich habe gesagt, du sollst Priya nachreisen, nicht, dich mit der Unterwelt anlegen.«
An dem Punkt hatte ihr sein Vater das Telefon aus der Hand genommen und gefragt, worum es bei dem ganzen Gerede denn überhaupt gehe. Er hörte nur so lange zu, bis er von Max Jungers Ultimatum erfuhr. »Warum hast du mich nicht angerufen, Thomas?«, fragte er. »Ich hätte die Sache schon geregelt.«
»Bei Clayton brauchten sie einfach einen Sündenbock, Dad«, erklärte Thomas und fühlte sich dabei wieder wie der halbwüchsige Junge, der er in den Augen seines Vaters immer geblieben war. »Die Wharton-Leute verlangten nach einem Opferlamm, und Mark Blake hatte keine Lust, sich selbst auf den Altar zu legen.«
»Mark Blake ist ein egomanischer Idiot«, erwiderte der Richter wütend. »Der Kerl kann sich doch nicht mal aus einer Papiertüte herausargumentieren.« Er schimpfte noch eine Weile weiter und beruhigte sich dann langsam. »Habe ich deine Mutter da richtig verstanden? Du gehst nach Indien, um für CASE zu
Weitere Kostenlose Bücher