Du bist in meiner Hand
schaffst du das nur jeden Tag?«, fragte er.
Sein Freund zuckte mit den Schultern und wackelte dann ein paarmal mit dem Kopf hin und her. Thomas sollte bald begreifen, dass diese Geste bei einem Inder so ziemlich alles bedeuten konnte.
»In Bombay gilt nur eine einzige Regel«, erklärte Dinesh. »Du musst lernen, dich anzupassen.«
Dinesh arbeitete als Investmentberater für die Zentrale der Hongkong and Shanghai Banking Corporation. Vom Bahnhof bis zur Bank waren es nur ein paar Schritte zu Fuß. Nachdem er bei einem Straßenhändler einen Stadtplan für Thomas erstanden hatte, winkte er ein Taxi heran. Er sprach im Maschinengewehrtempo ein paar Worte Marathi und wandte sich dann grinsend an Thomas.
»Falls du verloren gehst, sag zu jedem, der dir unterkommt, dass du ins Leopold musst. Aber du wirst schon nicht verloren gehen.«
Thomas stieg ein, und das Taxi fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Ein paar Minuten später setzte ihn der Taxi- Walla vor der roten Markise des Café Leopold ab. Thomas fischte ein paar einzelne Rupien aus der Tasche, warf einen Blick auf den Zähler und bezahlte das Fahrgeld.
Das angenehm luftige und geräumige Café war etwa zur Hälfte besetzt, allem Anschein nach hauptsächlich von Europäern. Thomas entschied sich für einen Platz nahe an der Straße. Jeff Greer erschien ein paar Minuten nach zehn. Er trug eine khakifarbene Hose, ein zerknittertes Oxford-Hemd, bei dem er die Ärmel hochgekrempelt hatte, und Lederschuhe, die dringend mal poliert gehört hätten. Aus seinen Bewegungen sprach keine Eile. Er wirkte weder durch trainiert noch fett. Der Blick seiner braunen Augen war intelligent, sein Lächeln offen.
»Thomas Clarke?«, fragte er und streckte ihm die Hand hin. »Jeff Greer. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
»Gleichfalls.«
Greer setzte sich und bestellte beim Kellner eine Tasse Kaffee.
»Was ist hier denn gut?«, erkundigte sich Thomas, während er die Getränkekarte studierte.
»So ziemlich alles. Aber wenn Sie kein Koffein brauchen, würde ich einen Lassi empfehlen.«
Dankbar für diesen Vorschlag gab Thomas seine Bestellung auf. Anschließend plauderten sie eine Weile. Thomas erfuhr, dass Greer fünfunddreißig und unverheiratet war, in Harvard Betriebswirtschaft studiert hatte und seit zwei Jahren in Bombay für CASE arbeitete. Da er ein guter Zuhörer und witziger Gesprächspartner war, wurde Thomas schnell mit ihm warm.
»Wie gefällt es Ihnen denn bis jetzt in Mumbai?«, fragte Greer.
»Auf mich wirkt es weniger wie eine Stadt, sondern mehr wie ein Abenteuerpark.«
Greer musste lachen. »Es dauert eine Weile, bis man sich daran gewöhnt.«
Der Kellner brachte ihre Getränke. Thomas nahm einen Schluck von seinem Lassi. Er schmeckte wie ein leichter Vanillepudding, dessen Aroma angenehm auf der Zunge haften blieb.
»Haben Sie das Dossier gelesen, das Ashley Ihnen gegeben hat?«, fragte Greer.
»Ja, sogar zweimal«, antwortete Thomas.
»Dann wissen Sie ja, worum es bei Ihrem Job geht.«
Thomas nickte. »Die Ermittler bekommen die ganze interessante Arbeit, und die Anwälte wälzen Papier.«
Greer lachte. »Das trifft es recht gut. Unsere Anwälte dürfen nicht vor Gericht erscheinen, können aber im Namen der Opfer Unterlagen zu der jeweiligen Rechtssache einreichen. Damit werden Sie die meiste Zeit verbringen – mit dem Studieren, Verfassen und Einreichen von Unterlagen.«
»Kommen wir denn je aus dem Büro heraus?«, fragte Thomas.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, bekommen wir jemals zu Gesicht, was die Ermittler zu Gesicht bekommen?«
Greer überlegte. »Wie sehen denn Ihre Pläne für den Rest des Vormittags aus?«
»Ich hatte gehofft, Sie hätten da ein paar Vorschläge.«
Greer lächelte. »Ich glaube, das lässt sich machen.«
Nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, winkte Greer ein Taxi heran und sagte beim Einsteigen ein paar für Thomas unverständliche Worte auf Marathi zum Fahrer, woraufhin ihn dieser mit einem seltsamen Blick bedachte. Greer wiederholte sein Anliegen mit mehr Nachdruck. Kopfschüttelnd bog der Taxi - Walla in den Verkehr ein.
»Wo fahren wir hin?«, fragte Thomas.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie einen Blick auf das werfen können, weswegen Sie hier sind«, erwiderte Greer.
Sie verließen Colaba in nördlicher Richtung. Nachdem sie am riesigen Victoria-Bahnhof vorbeigefahren waren, bogen sie in die Mohammed Ali Road ein. Thomas rechnete damit, dass Greer ihn kurz über ihr Ziel aufklären
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