Du bist in meiner Hand
Meter von ihm entfernt blieb sie stehen und lächelte scheu wie ein Schulmädchen. Genauso hatte sie ihn angesehen, als sie sich damals im Fellows Garden zum ersten Mal trafen.
»Gefällt dir mein Outfit?«, fragte sie. »Im Westen kann ich so etwas nicht tragen.«
»Pech für uns«, stellte er fest.
»Du siehst gut aus.«
»In einem Anzug fühle ich mich immer wie ein Langweiler.«
Sie lachte auf. »Dann wirst du dich bestimmt wohlfühlen. In meiner Familie gibt es davon eine ganze Menge.«
»Ich habe etwas für dich«, erklärte Thomas und holte den Gedichtband heraus, den seine Mutter ihm mitgegeben hatte. »Meine Mom hat dir das zu Weihnachten geschenkt.«
Überrascht nahm Priya das Buch entgegen und bewunderte es gebührend. »Woher weiß sie, wie gerne ich Naidu lese?«
»Das hat sie wohl erraten.«
»Bitte richte ihr meinen herzlichen Dank aus.« Sie drückte das Buch an sich. »Das ist ein wunderbares Geschenk.« Sie zögerte einen Moment. »Hast du …?«
Er nickte. »Ja, ich habe es ihnen gesagt.«
»Das tut mir leid. Es hat ihnen bestimmt wehgetan.«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Sie sind erwachsen.«
Priya wandte den Blick ab. Einen Augenblick später hatte sie sich wieder gefangen.
»Also, wo um alles in der Welt findet denn nun diese Party statt?«, fragte er.
Sie führte ihn zu der Rikscha und erteilte dem Fahrer Anweisungen. Nach kurzer Fahrt erreichten sie ein von Platanen flankiertes Holztor. Zwei uniformierte Wachleute führten sie auf das Gelände. Jenseits des Tores lag ein Garten von atemberaubender Schönheit. Vor dem weichen Licht der Abenddämmerung hoben sich die Silhouetten der Bäume ab. In der Mitte des Gartens gab es eine runde Rasenfläche mit einem von Kerzen beleuchteten Pavillon, in dessen Mitte eine junge Frau saß – die Braut. Sie trug einen gelben Sari und ein dazu passendes Tuch um den Kopf. Eine ältere Frau, die eine Tube Hennapaste in der Hand hielt, war gerade damit beschäftigt, die Hände und Füße der Braut mit Mendhi -Mustern zu bemalen. Seitlich von ihnen spielte ein Quartett Hindustani-Musik.
Nachdem sie durch das Tor getreten waren, blieb Thomas einen Moment stehen. In der Ferne sah er das große Haus, eingebettet in einen Akazienhain. Das Dach war mit Terrakottaziegeln gedeckt. Die Fenster standen offen, damit der Abendwind hineinwehen konnte. Neben dem Haus befand sich eine Terrasse, auf der sich die Gäste tummelten.
»Als Kinder nannten wir es immer Vrindavan«, erklärte Priya. Es war eine Anspielung auf den Zauberwald, in dem Krishna aufgewachsen war.
Thomas nickte. »Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass du in dieser Welt groß geworden bist.«
»Jetzt weißt du, warum wir weggegangen sind. Mein Vater hätte sich hier niemals einen eigenen Namen machen können.«
»Gehören alle diese Leute zu eurer Familie?«
»Nein. Es sind auch Freunde da. Aber keine Angst, ich werde dich nicht jedem Einzelnen von ihnen vorstellen.«
Thomas lächelte. »Kein Problem, solange ich zu allen Jungs Rohan und zu allen Mädchen Pooja sagen darf.«
Priya musste schon wieder lachen. »Benimm dich heute Abend lieber anständig. Vom ersten Eindruck hängt alles ab.«
Er betrachtete sie nachdenklich. »Es ist schon eine Weile her, dass wir das letzte Mal miteinander geflirtet haben.«
Sie wandte den Blick ab und wurde ganz still.
»Tut mir leid.« Er befürchtete, zu weit gegangen zu sein.
»Nein«, entgegnete sie, »entschuldige dich nicht.«
Da er ihr Unbehagen spürte, wechselte er rasch das Thema. »Ist dein Bruder auch da?«
Sie stieß ein kleines Lachen aus. Sofort lockerte sich die Stimmung zwischen ihnen wieder. »Abishek steht zwar auf der Gästeliste, aber ich bezweifle, dass du ihn zu Gesicht bekommen wirst. Bestimmt hat er irgendeine abgeschiedene Ecke für ein romantisches Schäferstündchen mit seiner neuen Freundin gefunden. Die beiden sind seit mindestens einem Monat unzertrennlich. Wir fragen uns schon alle, wann der Reiz des Neuen nachlassen wird.«
»Und dein Vater?«
Sie deutete auf die Terrasse. »Er hält dort oben mit den Intellektuellen Hof.«
»Unter anderen Umständen würde ich mich zu ihm gesellen.«
Sie holte tief Luft und bemühte sich, optimistisch zu klingen. »Bestimmt wirst du dich gern mit ihm unterhalten, wenn er erst einmal mit dir warm geworden ist. Ihr habt viel gemeinsam.«
»Zu viel, schätze ich.«
Sie gab ihm darauf keine Antwort. »Komm mit, meine Mutter möchte dich sehen.«
»Moment mal«,
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