Du bist nie allein
Feierabend aus dem Salon kam, gingen ihr immer noch Emmas Worte durch den Kopf.
Und nicht nur die. Vor allem musste sie auch an Jim denken.
An diesem Nachmittag hatte Jim ihr gefehlt wie schon lange nicht mehr – vermutlich wegen der Sache mit Mike. Sie grübelte, wie sich Jim wohl im umgekehrten Fall verhalten hätte. Hätte er sich einer neuen Frau zugewandt? Und wenn nein, hätte das bedeutet, dass er Julie mehr geliebt hatte als sie ihn? Und was würde geschehen, fragte sie sich, wenn sie sich doch noch in Mike verliebte? Was wurde dann aus ihren Gefühlen für Jim? Aus ihren Erinnerungen an ihn? Diese Fragen spukten ihr seit dem Mittagessen endlos durch den Kopf, und den Antworten wagte sie sich nicht zu stellen.
Bei der Aussicht, Mike am Abend zu sehen, war sie nervöser als am Tag zuvor. Nervöser als bei all ihren anderen Dates, wenn sie ehrlich war. Warum nur?
Vielleicht weil ich weiß, dass bei ihm alles anders ist, dachte sie.
Julie hatte ihren Jeep erreicht und stieg ein. Singer sprang hinten hinein, und Julie startete den Motor. Kurzentschlossen folgte sie der Hauptstraße ein paar Blocks lang und bog dann links ab, Richtung Stadtrand. Wenige Minuten später erreichte sie den BrookviewFriedhof.
Bis zu Jims Grab war es nicht weit, es lag gleich hinter der Anhöhe abseits vom Hauptweg, im Schatten eines Hickorybaums. Als sie fast dort war, blieb Singer stehen und weigerte sich stur, ihr noch länger zu folgen. Das war immer schon so gewesen. Anfangs wusste sie nicht, warum Singer zurückblieb, aber mit der Zeit war ihr der Verdacht gekommen, dass er sie aus Taktgefühl allein ließ…
Sie blieb vor dem Grab stehen, atmete tief durch und wartete, doch die Tränen blieben heute aus. Ebenso das Gefühl von der Schwere ihres Schicksals, das sie hier sonst immer empfand. Sie rief sich Jims Bild vor Augen, entsann sich der glücklichen Zeiten, und obwohl mit der Erinnerung wie immer ein Gefühl von Trauer und Verlust aufkeimte, glich es diesmal mehr dem Geläut ferner Kirchenglocken, das sanft nachhallte und schließlich verklang. Auf einmal fiel ihr wieder der Brief ein, der damals in dem Paket mit Singer gelegen hatte.
Die Vorstellung, dass du nie wieder glücklich wirst, bricht mir schier das Herz… Finde jemanden, der dich glücklich macht… Die Welt ist so viel schöner, wenn du lächelst.
Dort, an Jims Grab, wurde Julie plötzlich klar, dass Jim sich für sie freuen würde.
Nein, dachte sie, ich werde dich nicht vergessen. Nie. Und Mike wird dich auch nicht vergessen.
Auch das unterscheidet ihn von anderen.
Julie blieb, bis die Luft von Moskitos summte. Einer landete auf ihrem Arm, und sie verscheuchte ihn. Es war Zeit zu gehen. In weniger als einer Stunde wollte Mike sie abholen, und sie mochte ihn nicht warten lassen.
Ein Windhauch ließ die Blätter über ihr rascheln. Dann war es abrupt wieder ruhig, als hätte jemand das Geräusch abgestellt. Als Nächstes hörte sie von der Straße her ein Auto, das Motorgeräusch schwoll an und verebbte, bis es ganz verschwand. Von den Häusern weiter weg drang eine Kinderstimme herüber. Aus den Zweigen erhob sich ein Kardinal, und als Julie sich umblickte, sah sie, dass Singer plötzlich den Kopf wandte, die Ohren gespitzt. Allerdings rührte er sich nicht vom Fleck. Leicht stirnrunzelnd verschränkte sie die Arme und ließ ihren Blick schweifen. Dann wandte sie sich vom Grab ab und trat mit gesenktem Kopf den Rückweg zum Auto an, die Härchen an den Armen von einer Gänsehaut gesträubt.
Kapitel 20
M ike war pünktlich, und Julie schloss die Tür hinter sich, bevor Singer herauskonnte. Lächelnd nahm sie zur Kenntnis, dass Mike ein Sakko trug.
»Wow«, sagte sie, »daran muss ich mich erst gewöhnen.«
Julie hatte sich ebenfalls schön gemacht. Wie am Vorabend trug sie ein Sommerkleid, das ihre Figur zur Geltung brachte. An ihren Ohrläppchen baumelten kleine Goldkreolen, und Mike nahm einen Hauch Parfüm wahr.
»Hab ich mich zu fein gemacht?«, fragte er.
»Überhaupt nicht«, versicherte sie ihm und berührte das Revers. »Gefällt mir – ist das neu?«
»Nein, das habe ich schon länger. Ich trage es nur nicht oft.«
»Das solltest du aber«, sagte sie. »Es steht dir.«
Mike deutete zum Pickup, bevor sie das Thema vertiefen konnte.
»Also – bist du startklar?«
»Aber ja.«
Als er sich abwandte, fasste Julie ihn am Arm. »Wo sind die Heftpflaster?«
»Die habe ich abgemacht. Es geht schon besser.«
Sie streckte eine Hand vor,
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