Du findest mich am Ende der Welt
«
in dem » Little Snow-White-Zwergen-Bettchen «.
Mit einem Seufzer lieà ich mich in mein weiÃes Sofa fallen und
kraulte gedankenverloren Cézannes weichen Nacken. Der Schlafmangel der letzten
Nacht holte mich allmählich ein, ganz zu schweigen von den Aufregungen der
letzten Stunden, so schön sie auch waren.
Marion war vor zehn Minuten von ihrem Harley-Davidson-Typ abgeholt
worden, und ich hatte den ersten ruhigen Moment.
Zum dritten Mal an diesem Tag zog ich den Brief der Principessa
hervor und strich die zerknitterten Seiten glatt.
Dann rief ich Bruno an.
Wenn das Leben eines Mannes aus welchem Grund auch immer
unübersichtlich zu werden droht, braucht er vor allem drei Dinge: einen ruhigen
Abend in seiner Lieblingskneipe, ein Glas Rotwein und einen guten Freund.
Auch
wenn ich am Telefon keine groÃen Worte machte, sondern nur etwas in der Art wie
»Sollen wir einen trinken gehen, ich muà dir was erzählen« sagte, verstand
Bruno sofort.
»Gib mir eine Stunde«, sagte er, und allein der Gedanke an diesen
groÃen, bodenständigen Mann in seinem weiÃen Kittel hatte etwas ungemein
Beruhigendes. »Ich hol dich in der Galerie ab.«
Bruno ist Arzt, seit sieben Jahren verliebt in seine Frau Gabrielle
und begeisterter Vater einer dreijährigen Tochter. Wenn er nicht gerade
gebrochene oder zu groÃe Nasen richtet und den Damen der Pariser Gesellschaft
mit Botoxinjektionen die zerfurchte Stirn glättet, ist er auch
leidenschaftlicher Gärtner, Hypochonder und Verschwörungstheoretiker. Er
bewohnt mit seiner Familie eine Gartenwohnung in Neuilly, hat eine gut gehende
Praxis an der Place Saint-Sulpice und kann mit moderner Kunst ebensowenig
anfangen wie mit experimenteller Literatur.
Und er ist mein bester Freund.
»Danke, daà du gekommen bist«, sagte ich, als er eine Stunde später
die Galerie du Sud betrat.
»Schön, dich zu sehen.« Er klopfte mir auf die Schulter und lieÃ
seinen professionellen Ãrzteblick über mich laufen. »Du hast nicht viel
geschlafen und wirkst etwas aufgekratzt«, lautete die Gratisdiagnose.
Während ich meinen Regenmantel holte, blätterte Bruno angelegentlich
durch einen Ausstellungskatalog von Rothko, der auf dem Couchtisch lag.
»Was findest du nur an dem Zeug?« fragte er kopfschüttelnd. »Zwei
Rechtecke in Rot â das könnte ich dir auch noch malen.«
Ich grinste. »Um Gottes willen, bleib lieber bei deinen Nasen«,
entgegnete ich und schob ihn in Richtung Tür. »Die Wirkung eines Kunstwerks
kann man sowieso erst dann ermessen, wenn man selbst vor dem Bild steht und
merkt, ob es etwas mit einem macht. Viens , Cézanne!«
Ich trat nach drauÃen, schloà die Tür der Galerie ab und lieà das Eisengitter
herunter.
»So ein Quatsch! Was soll denn
ein rotes Rechteck mit mir machen?« Bruno schnaufte verächtlich. »Ja, wenn es
wenigstens die Impressionisten wären, da laà ich mich gerne überzeugen, aber
dieses ganze Geschmiere heutzutage ⦠ich meine, woran willst du denn heute
âºKunstâ¹ erkennen?« Man konnte die Anführungszeichen direkt hören.
»Am Preis«, entgegnete ich trocken. »Sagt jedenfalls Jeremy Deller.«
»Wer ist Jeremy Deller?«
»Ach, Bruno, komm, vergià es einfach! Laà uns ins La Palette gehen.
Es gibt im Leben Wichtigeres als moderne Kunst.« Ich machte die Leine an
Cézannes Halsband fest, der mich so treu ansah, als bezöge er den letzten Satz
auf sich.
»Da bin ich ganz dâaccord «, erklärte Bruno
und klopfte mir zufrieden auf die Schulter. Gemeinsam marschierten wir durch
den lauen Abend im Mai, bis wir zu meinem kleinen Lieblingsbistro am Ende der
Rue de Seine kamen, wo die Wände mit Bildern behängt sind, die nicht
Bekehrbaren bei jeder Temperatur drauÃen an den kleinen runden Tischchen sitzen
und rauchen und der stämmige Wirt mit jedem halbwegs schönen Mädchen scherzt
und behauptet, in einem früheren Leben mit ihm zusammengewesen zu sein.
Ich atmete tief durch. Egal, was das Leben für einen bereit
hielt â es war schön, einen guten Freund zu haben.
Eine Stunde später dachte ich nicht mehr, daà es schön war,
einen guten Freund zu haben. Ich saà bei einer Flasche Rotwein mit Bruno an
einem der dunklen Holztische, und wir diskutierten so heftig, daà einige der
Gäste erstaunt zu uns
Weitere Kostenlose Bücher