Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
vorangegangenen Novellen lässt Storm zum ersten Mal einen Ich-Erzähler auftreten. Der beginnt mit einer kurzen, aus zwei Sätzen bestehenden Präambel, die das Erzählprogramm dieser Geschichte darlegt. Erstens könne er nur Bruchstücke wiedergeben und nur das erzählen, was geschehen, nicht wie es geschehen ist, und zweitens gebe seine Erinnerung alles nur tropfenweise her.
Den ersten Besuch auf dem Staatshof erlebt der Ich-Erzähler als vierjähriger Knabe; er fährt eines Sommersonntagnachmittags mit seinen Eltern im Pferdewagen dorthin. Man überquert einen breiten Wassergraben, fährt vor die Haustür, wo Knecht und Magd, das Paar Marten und Wieb, den Herrschaften aus dem Wagen helfen und die Pferde versorgen. Der Vater, wohl ein Advokat wie Storms Vater, begrüßt die alte Dame mit einem Handkuss; untypisch für diese Gegend, so untypisch wie der extralange Name dieser Frau »Ratmann van der Roden«, der auf niederländische Herkunft verweist.
Heute herrscht Sonntagsruhe, Stormscher Sommernachmittagszauber lässt dem Vierjährigen ein gleichaltriges Mädchen erscheinen, Anne Lene. Und Wieb, das alte Kindermädchen und Faktotum, sitzt in Bereitschaft. Mädchen und Knabe kennen sich, sie haben schon miteinander Menuett getanzt. Der Leser erfährt den Namen des Jungen durch Anne Lene: Marx. Was für ein seltsamer Vorname. Auch die Welt, in die er auf dem Haubarg eintaucht, ist eine seltsame Welt: Anne Lene ohne Vater, Mutter und Geschwister, nur eine Großmutter mit diesem seltsamen Namen. Sie hält das Schild einer wohl einstmals bedeutenden, reichen Familie hoch, ein lebendes Fossil. Zu den Fossilien gehört auch das Menuett aus »Don Giovanni«, das die beiden Kinder wie aufgezogene Puppen vortanzen. Der Ich-Erzähler hebt das Geschehen aus dem Alltag in eine brüchige Kunstwelt, in deren Mittelpunkt Anne Lene steht. Alles kreist in seiner Erinnerung um diese eine Gestalt. Sein Blick durchleuchtet und umschließt die Geschichte, seine tropfenweise Erinnerung gestaltet das Schicksal der Figuren und damit das Schicksal der Novelle.
Viel Fleisch und Blut sehen wir nicht in dieser Kunstwelt. Anne Lene ist von Anfang an schicksalhaft an ihr Leben gebunden, sie scheint eine Ahnung davon zu haben und von Anfang an daran zu tragen. Ihr Unglück lässt schon gleich zu Beginn grüßen: Raben krächzen, und ein Gartenhaus, das auf wackligen Beinen über der Graft, dem Wassergraben, steht und abzustürzen droht, wirft seinen Schatten in die Erzählung.
Eine Liebesgeschichte müsste sich zwischen Marx und Anne Lene entwickeln, so denkt man, sie bietet sich an. Storm gebraucht ein altbewährtes Stilmittel, die Diminutivform. Die zieht sich übrigens als Marotte der Verniedlichung durch sein Werk, und oft genug nervt und stört sie. Anne Lene trägt Corduanstiefelchen , kostbare Stiefel aus weichem Ziegenleder, so kostbar wie ihr Name, blonde Härchen fallen über ein blaues Blusenkleid, heißt es hochpoetisch, und Marx sieht , wie sie ihr Köpfchen zu mir niederbeugt.
Eine Liebesgeschichte entwickelt sich trotz dieser Verzauberung nicht, weil Storm den Ich-Erzähler seinen Faden anders spinnen lässt. Nach dem Tod der Großmutter werden Marx und Anne Lene »Geschwister«, denn Marx‘ Vater hat die Vormundschaft übernommen. Der Staatshof, dessen Ländereien verpachtet sind, verfällt immer mehr, ist von Sträuchern und Büschen eingewachsen wie Dornröschens Schloss, und im Sommer ist er von Jasmin und Jelängerjelieber wie im Duft begraben. Beiläufig stellt der Erzähler fest: Anne Lene war, ehe ich mich dessen versehen, ein erwachsenes Mädchen geworden.
Ebenso beiläufig nimmt er die Nachricht von Anne Lenes Verlobung mit einem jungen Edelmann zur Kenntnis. Eifersucht spürt Marx nicht, oder etwa doch? Ich hatte zu bemerken geglaubt, dass er meiner jungen Freundin nicht in gleichem Grade wie mir missfallen wollte. Marx gibt etwas von seinem Charakter bekannt: Ich möchte, dass du genau so denkst wie ich. Solches Denken ist auch für Storm kennzeichnend. Gut möglich, dass Storm sich und seinem Ich-Erzähler mit dem Kammerjunker noch ein weiteres Alter Ego hinzuerfand. Marx schildert ihn als durch und durch abstoßenden Menschen, gefühllos, überheblich, berechnend, sadistisch.
Während der Staatshof nur noch ein Schatten von einst ist und zu einer Ruine verkommt, wo Wieb und Marten den Lebensabend verbringen, während weiteres Unglück von einer weissagenden Alten vorhergesagt wird, lässt der Kammerjunker
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