Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Sophie? Und auch Constanze unerreichbar fern für die Liebe, wie Storm sie im Kopf hat?
Dem Sog dieser Novelle kann man sich nur schwer entziehen. Der Abgesang im letzten Absatz dieser Geschichte ist hinreißende Prosa. Dank Ich-Erzähler ist »Auf dem Staatshof«, trotz einiger Ungereimtheiten, aus einem Guss. Storm hat mit diesem Erzähler eine Instanz gefunden, die das Immensee-Tableau seiner ersten Novellenperiode weitet zum episch-historischen Programm seiner zweiten. Eingelegt ist schon der historische und geographische Kern, der nicht immer genau getroffene »Lokalton«, auf den Storm sich mehr und mehr beruft, der in den folgenden Arbeiten eine zunehmend größere Rolle spielt und im »Schimmelreiter« seinen Höhepunkt erreichen wird.
»Auf dem Staatshof« ist die erste Novelle, die in Heiligenstadt entsteht. Dass Storm damit etwas Neues gelungen ist, muss er selber gespürt haben. Die innere und äußere Festigkeit seines Ich-Erzählers Marx, seine nachtwandlerische Entschlossenheit bei allem Zögern und Schweigen sind das Gegenteil des Storm-Wesens. Marx hat in Storm sein Alter Ego, wie Storm das seine in Marx. Dieses gelungene Doppelleben muss auf Storm stabilisierend gewirkt haben nach den mühsamen, mageren Jahren in Potsdam.
Das Heiligenstädter Parkett: Adel, römischer Abend, Singverein
Man muss kein Dichter sein, um die stabilisierende Wirkung des Erzählens zu erfahren. Wer sich von einer Psychotherapie Hilfe erhofft, wird erleben, dass für die seelische Heilung das Erzählen unentbehrlich ist. Auch in einer Freundschaft kommt die stärkende Wirkung aus dem Erzählen, denn das Erzählen ist das bedeutendste Merkmal der Freundschaft.
Storms Freundschaft mit dem Heiligenstädter Landrat Alexander von Wussow (1820–1889) hat mit Erzählen zu tun. Der Norddeutsche schätzt die Offenheit und Unternehmungslust, den Schwung und Witz dieses Preußen, der einer Generalsfamilie entstammt. Wenn auch Wussow von Adel ist und mit seiner Frau Anna, geborene von Byern (1821–1893), selbstverständlich eine Adelige geheiratet hat, so lässt sich Storm, der Feind von Kirche, Preußen und Adel, nicht davon abhalten, Freundschaft zu schließen. »Sippenhaft« ist für Storm undenkbar. Zu seinen unübersehbaren Charaktereigenschaften zählt der unbefangene, vorurteilslose Blick, wenn er nicht durch die Liebe zu Frau oder Kindern getrübt ist. Wer ihm, wie Wussow, als Fremder mit Offenheit begegnet, darf ein gutes Echo erhoffen. Der Mann ist umfassend gebildet, ein begabter Zeichner, er hat einen Roman geschrieben. Storm kann sich mit dem Landrat über Dichten und Denken austauschen. In dessen Haus, das er als Storms Nachmieter bewohnt, spricht man mit Hilfe der Hausdame Miss Mary Pyle englisch. Vor allem aber gefällt ihm, dass dieser gebildete und selber künstlerisch Tätige ihn ohne Eifersucht bewundert.
Storm muss gleich bei der ersten Begegnung von alledem etwas gespürt haben. Er berichtet den Eltern: Vor einigen Tagen bat mich der Landrat, mit dem ich bei Otto zusammentraf, mit in sein Gewächshaus zu kommen, um seine – in der Tat selten schönen – Hyazinthen zu besehen. […]. Beim Weggehen sprach er auf eine recht herzliche und dringende Weise den Wunsch aus, daß wir in nähern Verkehr miteinander treten möchten .
Wussow ist es also, der auf Storm zugeht, und Storm erfreut sich an der Offenheit und Unbefangenheit dieses Mannes. Auch Anna von Wussow erweist sich als Glücksfall, sie ist kinderlieb und hilfsbereit. Ich werde auf diese dicke Frau nicht eifersüchtig, meint Constanze. Schon bald duzen sich die Männer. Wir sehen uns sehr häufig, fast täglich und trinken oft mit unsern Frauen beieinander unseren Abendtee. Die Beziehung wird so locker, dass die Wussows bei den Storms zur Nachtbettzeit noch einen Überraschungsbesuch landen. Da wurde der Schlaf aus den Augen gerieben und der Teekessel noch einmal in Gang gebracht, denn ohne Tee, und zwar viel Tee, geht es bei ihm nicht ab .
Die Freundschaft mit dem Landrat als erster Respektsperson der Stadt hebt Storm und die Seinen in die Heiligenstädter Aristokratie. Außerdem gehören sie zu einem wöchentlichen Kränzchen, bestehend aus ungefähr
15–20 Familien. Man trifft sich jeden Donnerstag zum römischen Abend, den eine Dame, die in Rom solche Abende erlebte, hier wieder einführte. Man trinkt Tee und isst Kuchen, man führt lebende Bilder auf. Die Geselligkeit wächst uns hier fast über den Kopf, denn außer diesen Abenden haben wir
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