Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
über unsrer Bäume Wipfel sah‘n
Wir schweigend in die dämmerigen Lande.
Nun wird es wieder Frühling um uns her;
Nur eine Heimat haben wir nicht mehr.
Nun horch ich oft, schlaflos in tiefer Nacht,
Ob nicht der Wind zur Rückkehr möge wehen.
Wer in der Heimat erst ein Haus gebaut,
Der sollte nicht mehr in die Fremde gehen!
Nach drüben ist sein Auge stets gewandt;
Doch Eines blieb, – wir gehen Hand in Hand.
Nach Constanzes Geburtstag beginnen die Umzugsvorbereitungen, Ende Mai sind die Storms in der Wilhelmstraße 73, mitten in der Stadt. Die neue Wohnung liegt im ersten Stock; aus acht Fenstern blickt man über die Straße und sieht das Gefangenenhaus, das im Leben der Familie und in Storms Werk noch eine beträchtliche Rolle spielen wird.
In einem Brief an den Vater hat Storm die Wohnung gezeichnet und sie ganz behaglich genannt. Erhebliche Nachteile muss man allerdings verkraften: Es fehlt der von Constanze und Theodor gleichermaßen geliebte Garten. Dahin könnte man entfliehen, wenn bei großer Sommerhitze das Leben unterm Dach unerträglich wird, die Kinder hätten einen sicheren Spielplatz; die Straße vor dem Haus ist gefährlich. Immerhin gibt es im Parterre für Storm ein Arbeitszimmer, wo er manchmal auch mit seinen Söhnen schläft. In der Wilhelmstraße wohnen die Storms siebeneinhalb Jahre, bis endlich die Erlösung kommt, als 1864 die Rückkehr nach Husum möglich wird.
Einer der ersten Besucher aus Husum ist der Maler Hans Nikolai Sunde (1823–1864), ein körperbehinderter Nachbarsjunge aus der Hohlen Gasse, der altersmäßig zu Otto Storm passt, er verbringt seine Urlaubstage bei ihm in der Gärtnerei. Sunde ist hoch begabt und hat die Akademie in Düsseldorf besucht. Mit ihm unternehmen die Storms Ausflüge in die nähere Umgebung. Die Teufelskanzel bezwingt der kleine verwachsene Mann zu Pferde. Sunde malt Theodor und Constanze fast lebensgroß in Öl. Theodor erscheint en face durchgeistigt, weich und abwesend. Sunde hat Constanze – wohl idealisiert – im Profil dargestellt , ein zart-blasses, schönes Jugendgesicht der Zweiunddreißigjährigen; fünf Jahre später sehen wir auf einer Photographie, die sie zusammen mit Tochter Lisbeth zeigt, in das von Leid gezeichnete Gesicht einer vorzeitig gealterten Frau. Jetzt, Ende Mai 1857, ist sie schwanger.
Constanzes Liebesleid: Schwangerschaften
Bis 1856 hatte sich Storm ein hohes Frauen- und Liebesideal längst zusammengezimmert . Vom hohen Ideal, das der Fanatiker in Liebesangelegenheiten sich während seiner Verlobungszeit als Luftschloss zusammengezimmert hatte, ist nicht viel mehr als eine zugige Bretterbude übriggeblieben.
Im Sommer 1857 lassen Constanzes Gesundheit und Kraft zu wünschen übrig. Neben Maler Sunde sind Storms Bruder Aemil, der Arzt werden will, zu Besuch sowie Constanzes Schwager Stolle, der Arzt in Segeberg ist; auch die Eltern aus Husum sind für mehrere Wochen bei Kindern und Enkeln. Es sind heiße Sommertage. Das Leben unterm Dach wird zur Plage. Constanze fährt zur Erholung ins zweieinhalb Meilen entfernte Wahlhausen, wo die wohlhabenden Schlüters, eine mit den Storms befreundete Rechtsanwaltfamilie, ihren Landsitz haben. Zu Hause ist weiterhin Schonung unerlässlich. Constanze liegt auf dem Rücken und liest Macauleys Geschichte Englands, schreibt Storm an seinen Schwiegervater. Im Haushalt geht es aus seiner Sicht drunter und drüber, Kindermädchen und Köchin tun nicht ihre Pflicht, der kleine Karl hat Fieber. Angst geht um. Constanze verliert von Zeit zu Zeit leicht gerothete Absonderungen. Storm ist in großer Sorge, da […] eine Fehlgeburt in vorgerückter Schwangerschaft immer gefährlicher wird .
Constanze kommt wieder auf die Beine, jedenfalls aus Theodors Sicht, Mitte Oktober: Seit Wochen wohl und rüstig, wie ich sie je gesehen. Sie ist mit der Familie auf den Iberg gestiegen, den nahen Ausflugsort am südlichen Stadtrand, sie hat, ohne zu ermüden, langen Schwurgerichtsverhandlungen beigewohnt. Ein alter Schulfreund aus Lübecker Zeiten, der Obergerichtsadvokat Becker aus Oldenburg, ist mit seiner Frau einige Tage zu Gast. Mit den Schlüters fährt man in der Pferdekutsche hinaus in die »Göttinger Gleichen«. Storm schildert in schönster Novellensprache von dieser beflügelnden Unternehmung, vom Zauber der Landschaft und von der Geschichte des Landes, von Achim von Arnims Schauspiel »Die Gleichen«, von Gottfried August Bürger – eine ferne Erinnerung aus der Verlobungszeit mag Storm
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