Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Anne Lene schmoren. Sie wartet auf einen Brief von ihm. Tag für Tag meldet der Briefträger: Für dieses Mal nicht, liebe Mamsell!
Man erinnert sich einer Frauengestalt aus Storms Bertha-Zeit: Emma Kühl. Storm hatte sich Hals über Kopf mit ihr verlobt, und auch er ließ sie schmoren. Er selber ist deswegen mit sich hart ins Gericht gegangen, hat sich seine Schwäche nicht verziehen: Gut machen läßt sich so etwas nicht; die Reue muß ewig sein , hatte er an Constanze geschrieben.
Der unsympathische Kammerjunker hat es nicht auf Anne Lene abgesehen, sondern nur auf den Staatshof, und er zieht sich zurück, als ihr Erbe in Schulden versunken ist und verkauft werden muss. Das vordergründig Unbegreifliche – wie kann dieses holde Mädchen Anne Lene sich nur so einen als Ehemann wünschen – wird damit begreiflich, weil Storm dem Ich-Erzähler keine Konkurrenz zur Seite stellt, sondern Anne Lene ein Mannsbild mit dem Doppel aus Ich-Erzähler und Kammerjunker bietet. Sie wartet also nicht auf einen, sondern auf beide. Während beim Kammerjunker das Motiv für die zurückgezogene Verlobungshand verstehbar wird, bleibt beim Ich-Erzähler im Dunkeln, warum er sie überhaupt nicht geboten hat. Das erfährt der Leser erst am Ende der Novelle, als sich Anne Lenes Schicksal erfüllt.
Als Marx mit der inzwischen tödlich erkrankten Anne Lene nach den Klängen einer Geige im heruntergekommenen Saal des Staatshofes tanzt, hat der Sohn eines reichen Bauern, ähnlich unsympathisch wie der Kammerjunker, schon sein Auge auf diesen Besitz geworfen. Das altertümliche Menuett aus »Don Giovanni«, das Marx und Anne Lene so oft getanzt haben, ist nicht im Repertoire des Dorfmusikanten. Wir tanzten noch lange , lässt Storm seinen Marx erzählen. Die kranke, schwache Anne Lene kann nicht genug davon bekommen.
Marx flüchtet wie mit einem glücklich geraubten Schatz ins Freie und schenkt dem Leser einen Schimmer Hoffnung: Nun endlich wird er um Anne Lenes Hand anhalten! Aber er enttäuscht den Leser, indem er Anne Lene nur hinterherläuft, seinen Mund hält und so schweigt, wie Storm seiner Emma Kühl gegenüber geschwiegen hat. Den Mund braucht Marx für seine Ich-Erzählung. Er sieht, wie Anne Lene ihr Tuch um den Kopf bindet, aber das beunruhigende Bewußtsein einer eigennützigen Bitte, die ich für günstigere Zeiten im Grunde meines Herzens zurückbehielt, raubte mir den Atem und ließ kein Wort über meine Lippen kommen. Damit ist wohl der Heiratsantrag gemeint. Marx ist mit der von ihm Angebeteten, die nichts von seiner Anbetung weiß und in diesem Nichtwissen krank und kränker geworden ist, nun bis zur Graft gekommen, wo das Gartenhaus steht. Jetzt flogen die Raben von ihren Nestern und rauschten mit den Flügeln in den Blättern . Das alte Unglück lässt wieder grüßen, die Phantasie weckt das Ohr des Erzählers: So vernahm ich nun auch aus der Ferne das Branden der Wellen, die in der hellen Nacht sich über der wüsten geheimnisvollen Tiefe wälzten und von der kommenden Flut dem Strande zugeworfen wurden. Auf dem Staatshof, den Storm in der Nähe von Friedrichstadt angesiedelt hat, hört man die Meeresbrandung nicht. Storm hat also nicht die Wirklichkeit im Sinn, sondern ist nur interessiert an einer Konstellation des Erzählens, die seinem Lieblings-alter-Ego Marx alle Wünsche offen lässt. Unwillkürlich schloss ich die Hand des Mädchens heftig in die meine; doch mit der Scheu, die der Jugend eigen, sah ich in demselben Augenblick zu Boden . Der junge Mann hat zu wenig Mumm. Das Gartenhaus bricht zusammen, Lene verschwindet in der Graft. Dass Marx hinterherspringt, mag der Leser nicht glauben, denn wer so lange gezögert hat, der wird auch jetzt zusehen und keine Hand rühren. Der Novelle wäre es angemessener gewesen. Der Wirklichkeit wäre sie damit auch näher gewesen, denn eine Graft ist ein flaches Wasser über schlammigem Grund. Ein Schwimmen und Tauchen, das Storm seinen Ich-Erzähler erleben lässt, um Anne Lene zu retten, ist darin nicht möglich.
Marx kehrt vom Staatshof durch die Marsch feierlich und schweigend zurück in die Stadt, Anne Lene ist ertrunken, sein unerfahrenes Herz verzweifelte, jemals die Spur derjenigen wiederzufinden, die sich nun auch in diesen ungeheuren Raum verloren hatte . Warum die sich nun auch ? Ist es der Griff ins Unerreichbare, der Anne Lene hat entschwinden lassen wie Bertha von Buchan, wie Emma Kühl, wie Doris Jensen? Wie etwa auch einen kleinen Teil von Schwägerin
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