Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Versäum das nicht. Glück für Storm, Glück für die Söhne. Weder Hans noch Ernst müssen in den Krieg ziehen, sie bringen für den Soldatenberuf nicht genug Gesundheit mit, sie dürfen auf Vaters Kosten weiterstudieren. Hans, der es nie lange an einem Ort aushält, wechselt zum Wintersemester 1870 nach Erlangen, Ernst studiert in Tübingen.
Die Hechinger Geschichte ist ja denn, quod ad militaria, aufs Beste abgelaufen , schreibt Storm an Ernst. Er schreibt diesen Brief am 19. Januar 1871, einen Tag nach der Kaiserkrönung Wilhelms I. in Versailles. Er verliert kein Wort über dieses pompöse Ereignis, das in Frankreich als ungeheure Provokation empfunden und in Deutschland bejubelt wird.
Es fehlt mir wohl das, was man den historischen Sinn nennt. (…) Von der Reichsgründung hörte ich aus der Ferne, daß sie gemacht wurde, schreibt er Jahre später an Gustav Hörter. Das wichtigste für ihn ist: Ich liebe das Leben grenzenlos. Ich möchte immer leben. Diese zwei spontanen Sätze, die er Ferdinand Tönnies gegenüber eines schönen Sommertages gleich zu Anfang des Kriegs äußert, sind Kernsätze des poetischen Storm-Naturells. Damit steht er einsam und allein da. Dass er nicht in den kriegsverherrlichenden Schlachtengesang einstimmt, der dem Krieg Poesie abgewinnen will, hat man ihm noch nach seinem Tod angekreidet.
Deutschland auf dem Weg in die Abgründe des 20. Jahrhunderts. Für diesen Weg haben deutsche Dichter und Denker die Lorbeerkränze geflochten. Storm, das ist sicher, hat dafür keinen Handschlag getan. Gefallen hätte ihm, er sorgt sich gerade um seine Produktionskräfte, ein Kommentar der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 13. September 1870. Hier geht es um eine andere Sorge, nämlich um Deutschlands Herabwürdigung und höhnende Geringschätzung Frankreichs nach dem Sieg von Sedan. Der Zeitungsmann meint, daß die wahre Größe einer Nation nicht aus Eroberung nach Außen, sondern aus einer freien und reichen geistigen und materiellen Entwicklung im Innern entspringt .
Storm vermutet sehr bald nach Kriegsbeginn preußische Eroberungsgelüste. Tatsächlich muss Frankreich teuer für die Niederlage bezahlen und Elsass und Lothringen opfern. Seine Vermutung fußt auf festem Grund: Im preußisch regierten Nordschleswig verweigerte Preußen die Volksabstimmung, wozu es nach § 5 des Prager Friedens verpflichtet gewesen wäre. Danach wäre Nordschleswig wieder an Dänemark gefallen, wenn die Bevölkerung so abgestimmt hätte. Storm reagiert hier in seinem Brief vom 3. August 1870 an Sohn Ernst politisch informiert und wach wie selten; kaum verwunderlich, denn hier geht es um preußische Politik vor der Husumer Haustür.
Hinter der Haustür erleidet Doris Anfang Januar eine Fehlgeburt. Trotz allem – man kann es dem Familienvater nicht verdenken – fällt ihm ein Stein vom Herzen, denn ich muß wohl bei unserer pecuniären Beschränktheit sagen: zum Glück , schreibt er noch im Mai an den Ältesten.
Diese gewisse Erleichterung beflügelt ihn und seinen Gesangverein: Am 22. Januar 1870 singt sein Chor »Zum Besten der Verwundeten« . Das Programm bietet Schubert, Schumann und Mendelssohn. Auch »Altdeutscher Schlachtgesang« und »Die Wacht am Rhein« werden aufgeführt. Storm selber trägt Hebbels Ballade »Schön Hedwig« vor, begleitet mit Schumann-Musik von seinem tüchtigen Helfer Adolph Möller am Klavier. Hebbels Ballade ist ein Stück Poesie nach seinem Geschmack. Die von Gott gesandte schöne Hedwig sagt nämlich zum Ritter: Ich liebe dich . Daraufhin führt sie der Edelmann im Kreise seiner edlen Herrn vor den Traualtar und feiert sein Fest, Es soll mein schönstes sein .
In diesem Kriegswinter steht Storm noch einmal vor heimischem Publikum in einer Rolle, die er auch im Leben gern spielt. Noch einmal gibt es zum »Besten der Verwundeten« eine Vorstellung; dieses Mal das Theaterstück »Die zärtlichen Verwandten« von Roderich Benedix (1811–1873). Der Dichter, dem im wirklichen Leben das »Vielliebchen-Spiel« gut gefällt, sichert sich für die Bühne die Rolle des nicht mehr ganz jungen Liebhabers: Oswald Barnau, in dessen Schloss die Handlung in drei Aufzügen spielt. Im letzten spricht er zu Thusnelda die Worte: Ich will dich und keine andere; deinen edlen Sinn habe ich erprobt und so wie du wird mich keine andere lieben. Willst du mein Weib sein?
Im Produktionsfieber
Keine Frage, Storms »Immensee«-Zeit ist aus und vorbei, seine Novellenproduktion liegt darnieder seit seiner
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