Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Truppen erfreuen auch ihn, und er hofft auf weitere Siege. Vater Johann Casimir ist hellwach und neugierig, und Storm schreibt mit gewissem Stolz: Großvater verfolgt den Krieg mit lebhafter Teilnahme, namentlich daß wir Deutsche den großen Mac-Mahon geschlagen haben. Der legendäre französische Marschall hat in diesem Krieg wenig Schlachtenglück; er muss am 2. September 1870, nach der verlorenen Schlacht von Sedan, zusammen mit seinem Kaiser Napoleon III. in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Politisch gleichgültig gestimmt und den Tagesgeschehnissen von Krieg und Frieden, die ihn nicht unmittelbar berühren, eher ahnungslos gegenüberstehend, hat er schnell wieder vertrauten Boden unter den Füßen. Schnell legt er die aufgesetzt-deutschtümelnde Haltung ab, schnell findet er wieder zu sich selber. Diese Kriegssiege sind so berauschend, daß die solide deutsche Nation am Ende auch noch Geschmack an der gloire bekommt , schreibt er halbironisch einen Tag nach dem Sieg von Sedan an George Westermann. Und dem Seminaristen Heinemann aus Büren, der Storm bat, den Prolog für eine »Wallenstein«-Aufführung zu schreiben
und dabei den Schlachtenerfolg über Frankreich zu berücksichtigen, bescheinigt er, nicht ohne das Dichten zu vergessen: Die Geschichte wird diese Taten mit ehernen Lettern registrieren; – die Feder eines Dichters ist, vorläufig wenigstens, zu schwach dazu. Solange der Sabel arbeitet, soll der Schnabel schweigen .
Schwer wiegt für ihn die neue Erkenntnis von der naturhaften Notwendigkeit des Krieges. Die menschliche Gesellschaft verfolge mit elementarischer Stumpfheit nur das Ziel, sich von Zeit zu Zeit gegenseitig zu vertilgen. Das Bestehen der Welt beruht darauf, daß Alles sich gegenseitig frißt, oder vielmehr das Mächtigere immer das Schwächere; den Menschen als den Mächtigsten vermag keines zu fressen; also frißt er sich selbst und zwar im Urzustande buchstäblich , schreibt er seinem Sohn Ernst schon gleich zu Beginn des Krieges. Ekel empfindet er, dieser Gesellschaft von Creaturen anzugehören. Gedanken, die in die Nähe der bahnbrechenden Einsichten von Charles Darwin führen. Ob er Darwins Schriften damals schon kannte, ist fraglich – Darwins zweites großes Hauptwerk »Der Ursprung der Arten und die geschlechtliche Zuchtwahl« erschien erst 1871, nachdem sein erstes »Der Ursprung der Arten und die natürliche Zuchtwahl« bereits 1859 herausgekommen war. Sehr wahrscheinlich hat Storm als Leser und Autor der »Gartenlaube« den Aufsatz von Ludwig Büchner »Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein« gelesen, der 1861 in der weit verbreiteten Illustrierten erschien und Darwins Gedankengut darlegte und ausmalte.
Er notiert in seinem Brief an Ernst nicht nur diesen Gedanken, über den man verrückt werden könnte, sondern er befreit sich gleichzeitig von ihm, entflieht damit der Gesellschaft von Creaturen zum Trost für den Sohn und für sich selber und schreibt: Ist der Gedanke richtig, so ist der Umstand, daß man ihn fassen konnte, doch wieder ein Beweis, daß wenigstens der Einzelne sich über diesen Zustand erheben kann .
Sich über diesen Zustand erheben heißt, wie schon bei der Heimkehr 1864: nicht die Übersicht verlieren und zielgerichtet und praktisch handeln. Die Söhne Hans und Ernst müssen vor dem Kriegseinsatz bewahrt werden. Noch von Hademarschen aus fährt er am 20. Juli mit seinem Bruder Johannes nach Kiel zu seinem Sohn Hans, denn Onkel Joh. und ich können’s in dieser ländlichen Stille nicht aushalten , hat er ihm am Tag zuvor, dem Tag der tatsächlichen Kriegserklärung, geschrieben. Er will an Ort und Stelle die Lage in Augenschein nehmen. Seinen stets kränkelnden Sohn kann er sich nicht als kämpfenden Soldaten vorstellen, zu schwach steht der mit seinem Asthma da. Heilsgehülfe , das käme noch für den angehenden Mediziner in Frage.
Storm betreibt wieder einmal die Kleinarbeit, die seine erwachsenen Söhne eigentlich selber in die Hand nehmen könnten. An den neunzehnjährigen Ernst gehen Ende des Jahres genaue Anweisungen, denn am 1. Januar 1871 wird er »militärpflichtig«. Der Vater schickt ihm den »Freiwilligenschein«, den er für die Meldung bei der Behörde braucht, und nennt ihm Hechingen, den Sitz der Behörde, er schreibt ihm das Datum vor, an dem er dorthin reisen soll, und Laß Dich übrigens in der Klinik vorher untersuchen, ob Du ein Emphysem hast, und mache dann bei der militairischen Untersuchung darauf aufmerksam.
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