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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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Liebesgöttin Aphrodite, ihm verdanken wir das Wort »vögeln«, dieser Vogel fliegt also durch die Novelle, er kann aber den schwülen Empfindungen des Ich-Erzählers nicht selber zum Fliegen verhelfen.
    Im »Vetter« hat der Dichter sein Alter Ego. Der führt ein einsames und heilsames Halligleben, findet dort in Büchern und Musik seine Bestimmung, besiedelt die Kunst mit seinen Gedanken und Erinnerungen und entsagt dem schäbigen Leben auf dem Festland. Das wäre ein Leben ganz nach des Erzählers und Storms Geschmack. Keinen bizarren Lebenstraum führt er uns hier vor, sondern den Normalwunsch eines jeden, denn wer sehnte sich nicht bei passender Gelegenheit nach der einsamen Insel.
    Rührend ist seine Geste, dem famosen Musiker im Gesangverein, Adolph Möller, ein Denkmal zu setzen. Gut gemeint ist hier schlechter Dienst an der Novelle. Glänzend wie ein geflügeltes Wort steht hier ein Satz über die Musik, sie sei die Kunst, in der sich alle Menschen als Kinder eines Sterns erkennen sollen . Aber auch diese wichtige Botschaft macht aus der »Halligfahrt« noch kein geschlossenes Ganzes. Zu viele Einzelteile, die in ihrer Beliebigkeit keinen Zusammenhang stiften. Als besonderer und wiederholter Mangel erweist sich die Verpflichtung eines Hilfserzählers, in diesem Falle des Vetters, der jene Zeilen niederschrieb, die jetzt in einer kleinen, aber deutlichen Handschrift vor mir liegen .
    Auch die dann folgenden Zeilen , die knapp ein Viertel des Ganzen darstellen, stehen da, ohne dass der große Zusammenhang sichtbar würde: ein Stoßgebet an den Poeten-Übervater Homer, das dem Dichter Storm zu Kitsch und Sentimentalität gerät: Du aber, o Muse des Gesanges, verlasse du mich noch nicht! Laß mich mein Haupt an deine Schulter lehnen; denn ich bin müde, müde wie ein gehetztes Wild; und sollte ich heimlich bluten, so lege du die Hand auf meine Wunde . Niemand anderes als Storm selber ruft hier die Arme der Götter herbei. Die Götter helfen nicht. Ohne ihren Beistand vermag der Dichter den Zusammenhang der Teile künstlerisch nicht darzustellen, er wird als Baumeister mit der Architektur seiner Novelle nicht fertig, hinterlässt sie als Neubauruine.
    Immerhin: Neubauruine. Darin sind sein künstlerischer Wille geborgen, seine Leidenschaft und Liebe für das Dichten und Denken. Dagegen steht sein Kleinmut, die Beschwörung des Ganz-unten-am-Boden, die Rede vom quiescierten Poeten und vom Scheitern. So denken und reden die Dichter, wenn sie mit ihrem Latein am Ende sind. Bei Storm aber ist das nicht nur Beschreibung seines seelischen Ist-Zustandes, sondern immer auch ein rhetorisches Luftholen.

»Draußen im Heidedorf«
    Das geschlossene Ganze, das der vorige Text entbehrt, verhilft der Novelle »Draußen im Heidedorf« zu ihrem Erfolg. Mehr noch, die Geschichte von der tragischen Liebesverstrickung eines Jungbauern, der keinen Ausweg aus seinem Leid findet, ins Moor geht und dort den Tod sucht, bebt vor Antrieb und Spannung. Storm ist hier in seinem Element. In der Novelle berichtet der »Amtsvogt« von seiner Ermittlungsarbeit, die schnörkellos geschildert wird. Auch ein Stück Storm-Leben aus der frühen Liebesgeschichte mit Doris Jensen kann der Leser heraushören. Der verheiratete Hinrich Fehse ist unsterblich verliebt in das Slowakenmädchen, die Hebammentochter Margret Glansky; sie wird vom Amtsrichter als Zeugin vernommen und sagt: Herr Amtsvogt – ich hatte nicht gedacht, daß er’s gar so ernsthaft nehmen würde. Darauf antwortet der Amtsvogt: Sie wußten doch (…), daß er von Jugend auf Ihnen nachgegangen war; und ich meine, der sah nicht aus, als ob er mit solchen Dingen spielen könnte . Sitzt hier der Landvogt Storm zu Gericht über den jugendlichen Liebhaber Storm?
    Auch in dieser Novelle müssen dem Ich-Erzähler einige Hilfserzähler beispringen, damit Bild und Geschichte des Selbstmörders ihren erschöpfenden Ausdruck finden. Jedoch stören sie hier deswegen nicht, weil sie als Zeugen seines Verfahrens auftreten, sie sind organisch eingebunden in das Ganze.
    Für den Erzähler Storm bedeutet »Draußen im Heidedorf« die Wende. Sie ist aber nicht nur eine literarische, sondern sie markiert auch eine Lebenswende nach der Exilzeit, nach dem Tod von Constanze, nach den Anfangsschwierigkeiten der Ehe mit Doris. Nach Jahren des Probierens und Umhertastens hat er nun eine Sprache gefunden, die in den kommenden Novellen der bestimmende Ton sein wird. Ich glaube darin bewiesen zu haben, daß ich

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