Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
auch eine Novelle ohne den Dunstkreis einer bestimmten »Stimmung« (…) schreiben kann , lässt er Emil Kuh wissen.
Hier gelingt ihm ein Stück Literatur vom Leben auf dem Lande, dem er mit all seinen Schleifflächen von Liebe und Tod wahren und wirklichen Ausdruck verleiht. Dass er dabei das »Hässliche«, wie ihm vorgeworfen worden ist, aufgreift und thematisiert, ist belanglos, entscheidend in der Kunst ist nicht das »Was«, sondern das »Wie«. Storm hat mit »Draußen im Heidedorf« durch die meisterhafte Gestaltung, mit der eindringlichen Benennung gerade auch des »Hässlichen« ein Kunstwerk von Rang geschaffen.
Klang und Nachklang: Leopoldskron
Er muss das selber gespürt haben. Nachdem die Novelle in der Zeitschrift »Der Salon für Kunst, Literatur und Gesellschaft« erschienen ist, verwirklicht er seinen alten Plan, endlich die Einladung seines begüterten österreichischen Kollegen Julius Alexander Schindler anzunehmen, Schlossherr auf Leopoldskron bei Salzburg und Schriftsteller unter dem Namen Julius von der Traun. Die Reise beginnt Ende Juli, Ende August kehrt er nach Husum zurück. In Hamburg gesellt sich Vetter Ludwig Scherff dazu, in Göttingen treffen sie Ernst; das Trio reist nach Heiligenstadt zu Bruder Otto, wo Mitglieder des Gesangvereins ihrem alten Dirigenten spät abends noch ein Ständchen bringen. Ernst schlief zuletzt auf einer Bank (Dieß Müdewerden in Gesellschaften, was ihm auch in Husum begegnete, will mir nicht gefallen. Was meinst Du dazu?), schreibt Storm an Hans und wird wohl wissen, was Ernst so oft müde macht: der Alkohol. Mit Vetter Ludwig fährt er weiter über Eisenach und Nürnberg und München, wo die beiden mit Paul Heyse sehr heiter im Garten des Kaffée national zu Mittag aßen .
Ähnlich wie die Reise nach Baden-Baden ist auch diese wegen der Hochsommerglut etwas strapazant. Diese beiden Hitzeerlebnisse harren noch der Verarbeitung in der späten Novelle »Ein Bekenntnis« (1887). In Leopoldskron erwartet ihn die unbegrenzteste Gastfreundschaft. Keinen Pfennig muss er ausgeben, Wünsche werden ihm vom Mund abgelesen. Hier leb ich denn wie Gott in Frankreich, schreibt er an Ernst. Zwei Paar auserlesene Luxuspferde sind vor eine Kutsche gespannt; sie ziehen den staunenden Gast durch Park und Alleen, nach Salzburg und in die nähere Umgebung. Mit dem dichtenden Hausherrn fachsimpelt der Dichter aus Husum über dessen episches Gedicht »König Salomo von Ungarn« . Mit Hausbewohnern und Freunden erlebt er manche Tafelrundenfreude.
Die Rückreise führt ihn über Leipzig, wo er Karl besucht. Dort fällt er aus den Wolken und landet hart. Der jüngste Sohn hat sein Musik-Studium geschwänzt und Schulden gemacht. Die Lehrer, die Storm befragt, wissen nichts von einem Studenten Storm. Die düstere Zukunft Karls zeichnet sich ab.
Die Reise hat ihn dennoch beflügelt und befreit wie selten eine, ihn noch lange getragen. Wie sonst könnte er nun bald danach einen durch und durch poetischen Gesang von der Schönheit des Lebens anstimmen, von der Freude, die es bereithält, wenn man die Ohren aufsperrt und seinen unterschiedlichen Tönen und vielfältigen Harmonien lauscht.
Im Nachklang zu Leopoldskron schreibt er die Novelle »Beim Vetter Christian« (1872/73). Wieviel vom Vetter Scherff mag drinstecken? Bester, ergreifender und zugleich sehr seltener Storm, sein einziger Text, den köstlicher Humor und feine Ironie von Anfang bis Ende durchziehen. Man könnte meinen: Hier ist Thomas Mann in die Lehre gegangen. Storm führt dem ungläubig staunenden Leser vor, dass er noch einen Pfeil im Köcher hat, von dem er viel geredet, den er bisher aber noch nicht verschossen hat, den er so auch nicht mehr abschießen wird.
Dass diese ebenfalls kurze Novelle vom menschlichen Glück ihren gereiften Ausdruck finden kann, gelingt mit der Kraft, die schon in der Novelle vom menschlichen Unglück im Heidedorf die entscheidende Rolle spielte. Da ist Storms solide Kenntnis des Stoffes, da sind Freiheit und Unabhängigkeit vom Geschehen, da ist der Abstand zu einer vergangenen Zeit, der er sich wie in Heimweh nahe fühlt. Es ist die »gute alte Zeit«, als seine Vorfahren in Husum in der Ruhe und Ordnung der Herzogtümer ein beschauliches, aristokratisches Leben in Wohlstand und Unabhängigkeit führen konnten. Es ist die von nationalen Tönen noch unberührte Zeit, die er selber als Jugendlicher erlebte. Vater Johann Casimir ist ein Vertreter dieser Zeit, er zieht aus ihr seine
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