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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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sei sie nur von einem so unausstehlich souverainen musikalischen Hochmut besessen.
    Diese energische Sängerin treibt Storm so weit, dass er die Leitung des Chores niederlegt. Das Studentenlied »Als wir jüngst in Regensburg waren« ist der Stein des Anstoßes und sorgt für eine Storm-Anekdote, die der damals in Husum lebende Rudolf Eucken (1846–1926) erzählt. Er ist von 1867–1871 Lehrer am neuen Gymnasium, er singt in Storms Chor. Später ist er in Frankfurt unter Direktor Tycho Mommsen tätig, er macht sich als Philosoph einen Namen; 1908 erhält er den Nobelpreis für Literatur. In seinen »Lebenserinnerungen« schreibt er:
    Die berühmteste und bedeutendste Persönlichkeit des Ortes war natürlich Theodor Storm. Ich habe aber bei aller Anerkennung, ja Bewunderung seiner Kunst ein engeres persönliches Verhältnis zu ihm nicht gefunden. Dabei muß ich eines drolligen Erlebnisses gedenken, das, so viel ich weiß, keine Stormbiographie erwähnt. Der sehr musikalische Dichter war Leiter eines Gesangvereins von Herren und Damen und machte die Sache ausgezeichnet; alles Philisterhafte war ihm dabei gründlich zuwider. Nun entwarf er ein Programm für ein Konzert, dessen Schluß nach ernsten Darbietungen auch das harmlose Studentenlied »Als wir jüngst in Regensburg waren« bilden sollte. Als aber die Probe begann, erklärten die Damen oder doch ihre Mehrzahl, das Stück wäre unmoralisch, und weigerten sich es aufzuführen. Das versetzte Storm in einen begreiflichen Zorn. Er meinte, das könne man ihm doch zutrauen, nichts Unpassendes darzubieten. Die Damen beharrten auf ihrer Weigerung, das Konzert begann, ganz Husum war aufs höchste gespannt, wie die Sache verlaufen werde. Das letzte Stück begann, und – sämtliche Damen verließen das Podium.
    Nun erhob sich Storm und erklärte, er lege die Leitung dieses Vereins nach solcher Behandlung nieder. Die Damen beharrten auf ihrem Standpunkt und haben dann einen Mann aus Berlin zur Leitung berufen. Dieser ist aber, soviel ich weiß, nur einige Wochen in Husum geblieben und dann wieder abgereist. Nun triumphierten die Freunde von Storm, Husum war gespalten; schließlich legte sich die Geistlichkeit ins Mittel.
    Der sehr beliebte und tüchtige Propst Caspers hat die Häupter der Parteien zu einem freundschaftlichen Mittagessen eingeladen; dort wurde die Sache geschlichtet und Storm blieb Leiter.
    Ist nun das Studentenlied aus Regensburg, das den Krach im Chor bewirkt, ein »harmloses Studentenlied«, wie Eucken schreibt? Studentenlieder sind in der Regel nicht »harmlos«, zumal wenn sie das Thema Liebe und Sexualität berühren. Sie werden besonders gern gesungen von Männern jeden Alters und nehmen das weibliche Geschlecht ins Visier. In den Erzählungen dieser Lieder steckt ein »Subtext«, eine zweite Ebene, ein Hintergedanke, der den Worten des geschriebenen Textes unterlegt ist und das Eigentliche meint. Auch »Als wir jüngst in Regensburg waren« handelt von Liebe, vom Strudel der Sexualität. Musikalisch erklärt wird der Strudel gleich im zweiten Vers der ersten Strophe mit dem Sprung einer großen Terz, hinab von a nach f, gefolgt von einer kleinen Terz weiter zum d. An diesem Fallen durch den Raum einer Quinte, in der musikalischen Abwärtsbewegung, erkennen wir das Bild des Strudels. So hat Musik schon immer auf ihre Weise Worte unterstrichen und deren Bedeutung hervorgehoben.
    Gleich die zweite Strophe muss Storm besonders elektrisiert haben: Und ein Mädel von zwölf Jahren / Ist mit über den Strudel gefahren; Weil sie noch nicht lieben kunnt, / Fuhr sie sicher über Strudels Grund. Ob dem Dichter hier eine ferne Erinnerung kommt an seine erste große Liebe? Ihn, Storm, konnte sie jedenfalls nicht lieben. Dann aber erscheint in der dritten Strophe das adlig Fräulein Kunigund, sie will mitfahr’n über Strudels Grund und fragt den Fährmann in der vierten: Sollt‘s denn so gefährlich sein? Nur wem der Myrtenkranz geblieben / Landet froh und sicher drüben hören wir in der fünften Strophe. Nur die Zwölfjährige aus der zweiten Strophe käme für eine sichere Überfahrt in Frage. Das adlige Fräulein aber hat bereits ihren Myrtenkranz, also ihre Unschuld verloren, folglich Kam ein großer Nix geschwommen, / Nahm das Fräulein Kunigund, / Fuhr mit ihr in des Strudels Grund. Mit »Strudel« wird nicht nur »Sexualität« benannt, sondern die Phantasie wird hineingezogen in den Geschlechtsakt und in die Vulva, die das männliche Glied zu ihrem

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