Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
ihren Freund Emanuel Fehling. Ihre Schwester Agnes vertraute ihr unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit an, daß Lucie Storm einen Fehltritt begangen hätte und sie deshalb jetzt gleich hätten heiraten müssen. – Ich war sehr betroffen, hätte aber zugleich aus der Haut fahren können über die Art und Weise wie Agnes darüber redete. Sie täte einem ja natürlich furchtbar leid, würde ja nun gewiß ein sehr unglückliches Leben mit ihrem Mann führen, denn dieser könnte sie ja unmöglich mehr achten, wenn sie ihm gegenüber ihre »Frauenwürde« nicht gewahrt hätte und überhaupt wäre es schrecklich, wenn das »Tier« im Menschen so siegte, bei Lucie wäre ja freilich das immer bemerkbar gewesen. Die meisten Männer würden sie ja überhaupt sitzen lassen und es sei ein Glück, daß dieser es nicht täte etc. – Das ist nun die Auffassung aller rechtlich und sittlich denkenden Menschen und diese Auffassung ist so kalt und hart und roh!
Die unbefangene Klarsicht dieser gegen Zeit und Strom denkenden neunzehnjährigen jungen Frau erscheint heute als mächtige Widerrede auf die unbarmherzige, verlogene Moral einer Gesellschaft, die das Schicksal der vom Leben gebeutelten, dreißig Jahre alten, schwangeren Storm-Tochter verspottet und daran ihre klammheimliche Freude hat. Lucie verschwindet mit ihrem Theodor nach Berlin, wo sie die Tochter Gertrud zur Welt bringt. Daß sie den Wurm schon so lange hat und die Geschichte gut durchgemacht, trotz ihrer schwachen Gesundheit, ist auch sehr erfreulich, überhaupt ist es wohltuend, einen Menschen, den man nur immer hat leiden sehen, glücklich zu wissen, schreibt die Reventlow im April 1891 an Emanuel Fehling. Lucie wird noch zwei weiteren Kindern das Leben schenken, Sohn Ernst und Tochter Bertha. Sie stirbt 1935 in Berlin.
Was der zweiten Storm-Tochter zum Segen wird, muss die älteste, Lisbeth, als Fluch tragen. Gustav Haase, der von Storm so sehr geschätzte Schwiegersohn, der Pastor mit dem ruinierten Ruf, hat auch seine letzte Seelsorgerstelle in Grube verlassen müssen. Er findet schließlich eine Beschäftigung bei der Inneren Mission in Berlin. Lisbeth leidet unter der zunehmenden seelischen und wirtschaftlichen Belastung der Familie. Ihr Verhältnis zu Haases Kindern, die er mit in die Ehe brachte, ist zerrüttet. Sie weiß keinen anderen Ausweg als Hilfe zu erbetteln. Am 6. Juni 1894 klopft sie bei Julius Rodenberg in Berlin an die Tür. Er hat in einer Tagebuchnotiz diesen Besuch festgehalten: 7. Juni [1894] Donnerstag Mittag ½ 1 . Einen recht traurigen Besuch hatt‘ ich gestern. Die Tochter Theodor Storm’s, eine Frau, tief in Schmerz, gut in den Dreißigen jetzt u. von nicht unsympathischer Erscheinung, mit einem Pfarrer verheirathet, der ihr vor Jahren – die Ehe gebrochen hat u. seitdem unerbittlich vom geistlichen Consistorium verfolgt wird, wie wohl sie seinen Fehltritt ihm längst verziehen hat. Des Amtes entsetzt, hat er bald hier, bald dort, u. in den letzten beiden Jahren bei der hiesigen Arbeitercolonie des Pfarrers Diestelang eine dürftige Stellung gefunden, aus der er aber jetzt auch wieder vertrieben [werden] soll. Abgewiesen von all den hohen und höchsten Stellen, an welchen christliches Erbarmen walten sollte, wendet sie sich mit ihren vier Kindern Hilfe suchend an die alten Freunde ihres Vaters. Aber was vermögen die für sie zu thun? Es schnitt mir durchs Herz, wie sich ihre Verzweiflung, ohne zudringlich zu sein, äußerte. Keine Novelle von Storm vermöchte so tragisch zu wirken, wie dieses Schicksal seiner Tochter.
Lisbeth ist krank, das Stormsche Familienübel hat auch sie gepackt. Ab 1898 wird sie von bösen Magenschmerzen gepeinigt, sie nimmt noch teil an der Einweihung des »Theodor Storm-Denkmals« in Husum am 14. September 1898, dem 81. Geburtstag ihres Vaters. Ferdinand Tönnies ist der Festredner und sagt in seiner Ansprache: Denn in der Tat, der Mensch und der Poet waren, wie es selten der Fall ist, eins in ihm. Er war ganz Poet. Lisbeths Leid ähnelt dem Leid ihres Vaters in dessen letztem Lebensjahr. Am 23. Oktober 1899 stirbt sie dreiundvierzigjährig in Berlin.
Von Bruder Karl hat Franziska zu Reventlow ein Bild wie einen Schnappschuss eingefangen, als sie Storms Witwe Doris besucht: Dann fuhr ich nach Kiel und war den Tag bei Storms. Der eine Sohn war auch da, ein famoses Haus. Er ist Musiklehrer, ca. 40 Jahre alt, enorm dick .
Gertrud, die inzwischen in einem Kindererholungsheim auf der holländischen
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