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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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eingestickte Stränge, die zusammen das Muster eines Keils bilden. Mit seiner Spitze liegt er unter dem fest gezogenen, breiten Gürtel. Ein blasses Gesicht, schmale Lippen, dunkle, große Augen und dunkles, langes, auf die Schultern fallendes Haar; Mittelscheitel. Der Maler hat noch einen draufgesetzt und den Erwachsenen-Ausdruck des Künstlers zugefügt: Mona Lisa lässt grüßen mit dem undurchsichtigen Lächeln und dem ebenso undurchsichtigen Blick: Schaut sie den Betrachter an oder schaut sie ins Nirgendwo?
    Vier Jahre später formuliert es der inzwischen dreiundzwanzigjährige Storm in einem Brief an die Altonaer Tante Friederike Scherff so: Seitdem ich sie an dem Weihnachtsabend gesehen hatte […], bildete sich ein Gedanke bei mir aus, dies Mädchen geistig an mich zu fesseln. Und jetzt muß ich Dir das Manchen Unbegreifliche sagen, ich habe schon damals das Kind geliebt . Tage später erhält Meine gute Friede wieder einen Brief: Noch einmal muß ich’s Dir wiederholen: Meine Überzeugung war, es sei die Meinung ihrer Pflegemutter in so weit mit meiner im Einklang, es müsste aus diesem nahen Verhältnis mit einem jetzt erwachsenen Mädchen notwendig eine Liebe entstehen, und sie hielte mich dessen wert. Und zu dieser Überzeugung war nicht allein mein Herz, sondern auch mein Verstand berechtigt .
    Verstand und Gemüt; beides verlange ich von meinen Freunden, schreibt er an Therese Rowohl Anfang 1838. Er hat beide gezündet, um das Projekt Bertha zu realisieren. Das Elixier der Einbildungskraft, das Kant und Hegel längst in den allgemeinen Gedankenkreislauf gebracht haben, soll helfen. Besonders gern hatte zwei Generationen zuvor Novalis (1772–1801) diese romantische Droge geschluckt.
    So wie Novalis seine Einbildungskraft auf die dreizehnjährige und neun Jahre jüngere Sophie von Kühn (1782–1797) – das ist exakt der Altersunterschied zwischen Storm und Bertha – wirken lässt, um das eigene Lebensgefühl und das der Geliebten zu befeuern, so will auch Storm das Projekt Bertha vorantreiben. Das Ziel: Sobald Bertha nach der Konfirmation im heiratsfähigen Alter ist, soll sie seine Frau werden. Die Werkzeuge sind Gedichte und Märchen, Briefe und Besuche, Gespräche, Blicke und andere Hilfsmittel. Erstaunlich, wie Storm über fünf Jahre an seinem Willen, das romantische Projekt zu einem guten Ende zu bringen, festhält. Novalis ist da das entgegengesetzte Vorbild: Der will seiner geliebten, schon mit fünfzehn Jahren verstorbenen Sophie innerhalb eines Jahres nachsterben; auch ein auf die eigene Person zugeschnittenes Projekt, das nicht durch praktische Suizid-Handlungen, sondern ausschließlich durch Gedanken- und Willenskraft realisiert werden soll. So ist auch Storm fest entschlossen, sein Bertha-Projekt mit dem ihm eigenen Zauber – Novalis sagt »magischer Idealismus« – unter Dach und Fach zu bringen. Aber wie es im Leben so geht: Novalis scheitert mit seinem Projekt, er ist ein Jahr nach Sophies Tod noch unter den Lebenden, hat bald eine neue Flamme und verlobt sich 1798 mit Julie von Charpentier. Auch Storm scheitert am Ende. Er ist am Boden zerstört und hat das Gefühl, Herz und Verstand verloren zu haben. Das tiefe Erschrecken, die Fassungslosigkeit gelten mehr dem eigenen Scheitern als der Abweisung durch Bertha von Buchan. Sein Zauber ist entzaubert.
    Von Storms erster großer Liebe sprechen die Biographen gern und davon, er habe die Liebe hier in ihrer ganzen Tiefe erfahren . Kann eine große Liebe sein, was einseitig gerichtet ist und – im Unterschied zu Novalis – ohne jede Erwiderung? Kann der Mensch unter dieser Voraussetzung die Liebe in ihrer ganzen Tiefe erfahren? Storm, das liegt auf der Hand, ist bis über beide Ohren in ein Kind verknallt, er ist in Faszination verrückt, und das ist der Grund für sein Begehren und Werben, das Bertha in ihrer kindlichen Naivität nicht begreift, dem sie später ausweichen, das sie ignorieren und zuletzt, mit der Hilfe ihrer Pflegemutter, zurückweisen wird.
    Zunächst hat Berthas Verhalten den jungen Mann in seiner Leidenschaft beflügelt. Eine Eroberung machen, das ist die Aufgabe, die Storm lösen will. Berthas Kinder-Einfalt stachelt ihn an und führt seinem Projekt mehr Energie zu. In seinen Gedichten für Bertha zieht er andere Saiten auf, lässt er den Sänger oder Spielmann immer neue Lieder singen.
    Das erste Gedicht, das er dem Kind widmet, notiert er schon am Weihnachtsmorgen nach Heiligabend 1836. Da spricht der Dichter im

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