Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Heine-Ton vom Liebchen und der wundersüßen Braut , von der schon die Rede war, als Storm Bertha noch gar nicht kannte. Nun ist die »süße Braut« zum Greifen nah. Im Lockenköpfchen , das Anfang Januar 1837 entsteht, spricht der Dichter Klartext: Komm zu mir, mein Lockenköpfchen, / Komm zu mir und setz dich nieder, / Hörst ja gerne, wenn ich singe / Hörst ja gern die alten Lieder . Die Kleine setzt sich freundlich lächelnd auf des Sängers Schoß. Nun singt er der Kleinen zur selbst gezupften Zither das Lied von einer Nixe, die wie im Goethe-Gedicht den Fluten entrauscht und dem Fischer – Halb zog sie ihn, halb sank er hin – den Tod bringt. Lockenköpfchen muss nun hören, wie die Nixe den Knaben eiskalt umschlingt und – Erlkönig lässt grüßen – bezirzt: Wie wohl, wie warm / In deinem Arm! / Lieb Knabe, laß uns scherzen! Die Nixe scherzt aber nicht, sondern: Dem Knaben drang / Der kalte Tod zum Herzen. Dieses Lied vom Tod singt der Sänger mit kalter Berechnung; denn es soll das Lockenköpfchen erschrecken und an seine Seite flüchten lassen: Mit ihren zarten Armen / Hält sie fester mich umschlungen. Darauf hat der Sänger nur gewartet: Und ich küss die Purpurlippen, / Drück ans Herz sie leise, leise […].
Wann hat Bertha dieses Gedicht zum ersten Mal gelesen? Hat Storm es für sie abgeschrieben und einem Brief beigelegt, wie er das mit anderen Gedichten auch tat? Sie könnte es 1838 in Nr. 12 der »Neuen Pariser Modeblätter«, die in Hamburg erschienen, gelesen haben. Dort war es allerdings mit zwei anderen Schlussversen in der letzten Strophe abgedruckt: Augenbläue ist die Tiefe / Darin ich ihr nachgesprungen. Das klingt wie »entschärft«, Storm nimmt den armen bleichen Knaben , der auch sonst im Gedicht so einsam und verlassen wie bedeutend und gewichtig dasteht, wie einen ihm unangenehmen Fremdkörper heraus und glättet die Strophe ins Belanglose und Unverbindliche.
Für Bertha-Lockenköpfchen ist das Zuckerbrot und Peitsche. Sie wird kraft Poesie, die der Sänger im Gedicht entfaltet, gefügig gemacht und zur Liebe gezwungen. Der Dichter lässt den Sänger frei von Schuld; denn Lockenköpfchen hat am Ende den armen bleichen Knaben in Angst und Schrecken gejagt, ihn fast getötet; sie trägt die Verantwortung, sie wird am Ende schuldig gesprochen.
Von Berthas Reaktion auf das Lockenköpfchen ist nichts bekannt. Sollte Bertha das Gedicht als zwölfjähriges Kind gelesen haben, dann hätte sie es nicht begriffen. Auch ob Pflegemutter Therese Rowohl, die eine kluge, gebildete und schreibgewandte Frau war, die Verse kommentiert hat, ist nicht bekannt.
Im April 1837 schreibt sich Storm an der Universität Kiel ein, um Jura zu studieren. Mehr als zweihundert, weniger als dreihundert Studenten leben in der Stadt mit zwölftausend Einwohnern. Es ist ein Studium, das man ohne besondere Neigung studieren kann, auch war mein Vater ja Jurist , schreibt er rückblickend an Emil Kuh. Nikolaus Falck, »Papa Falck«, der schon Vater Johann Casimir an der Husumer Gelehrtenschule unterrichtet hatte und Storm nach Beendigung des Studiums gute Dänischkenntnisse bescheinigt, wird einer seiner Lehrer, bei ihm hört Storm schleswig-holsteinisches Recht.
Die Kieler Studentenzeit bis 1842 muss eine gute Zeit für Storm gewesen sein. Hier schnuppert der junge Mann zum ersten Mal die Luft, die Professoren, Bürger, Künstler und Politiker gleichermaßen atmen und unterschiedlich interpretieren, die Luft, in der neue Töne, neue politische Musik erklangen. Dänemark reicht zu Storms Kieler Zeiten von der Elbe bis zum Nordkap. Nach Jahrhunderten friedlicher Koexistenz von Dänisch und Deutsch hat sich ein neuer Patriotismus breitgemacht. Vorbei sind die Zeiten, da Dänemarks Danebrog, ohne Anstoß zu erregen, in der Stadt und auf den Schiffen im Hafen wehte. Der dänische König, den die Schleswig-Holsteiner auch in Kiel als »Landesvater« begriffen, verliert diesen Ehrentitel. Jetzt redet man von einem Vaterland, das »Schleswig-Holstein« heißt und Dänemark draußen vor der Tür lässt. Mit Dänemark scheint etwas faul, meinen die Schleswig-Holsteiner, es wolle seine schon ausgestreckte Hand auf die Herzogtümer legen. Finger weg! Und die Dänen und dänisch Gesinnten ihrerseits fordern Anschluss und »Einverleibung« Schleswig-Holsteins. Das Märchen vom Gesamtstaat liest man durch die mit immer stärkeren Gläsern nachgerüstete nationale Brille. Am Ende, nur sechs Jahre nach Storms Kieler Zeit,
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