Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
dreieckig angelegte »Klingberg« ist um- und zugebaut worden. Da, wo das Hotel stand, steht jetzt ein großes Kaufhaus, und dort, wo die Vermieter Luetjens und Giffhorn wohnten, stehen jetzt unansehnliche Wohnblöcke. Das Haus an der Trave, das Röse-Haus, vermittelt mit seinen vielen Fenstern allerdings noch einen Eindruck, wie es gewesen sein könnte, als Storm in der »Nacht der Heine-Lieder« zum Fenster hinaus und auf die Trave blickte.
Zwei Tage vor Heiligabend 1836 schreibt Storm einen Weihnachtsbrief an seinen Onkel Ernst Esmarch. Es ist zu gratulieren zur Beförderung und zur Geburt des neunten Kindes, Tochter Sophia. Storm teilt mit, dass er das Weihnachtsfest in Altona bei »Tante Alsen«, einer Verwandten seiner Mutter, verbringen wird, denn unter Freunden und Verwandten muß ich den heiligen Abend nun mal zubringen .
In Altona wohnt eine Kusine seiner Mutter, Friederike Henriette, geborene Alsen, die mit dem Kaufmann Jonas Heinrich Scherff verheiratet ist. Warum Storm Weihnachten 1836 dort hinfährt und nicht zu seinen Eltern nach Husum, erfahren wir nicht. Der Weg nach Husum wäre umständlicher und länger gewesen. Ist das der Grund? Auch der Weg von Lübeck nach Altona hatte es in sich.
Als Storm 1835 nach Lübeck kam, hatte mit der Buddenbrook-Zeit auch die Eisenbahnzeit begonnen: Im Dezember 1835 dampfte die erste Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth. Neun Jahre sollten noch vergehen, bis die erste Eisenbahn zwischen Altona und Kiel verkehrte, und fünfzehn Jahre mussten Reisende noch warten, bis sie ab 1851 zwischen Lübeck und Hamburg Zug fahren konnten. Storm ist also für den Weihnachtsbesuch auf Pferd und Wagen angewiesen. Wie eine Kutschfahrt zwischen Lübeck und Hamburg verlaufen konnte, beschreibt er wieder in der Novelle »John Riew«, die schon von Lübeck und dem großen Haus in der »Wahmstraße« erzählt.
Am Donnerstag vor dem heiligen Abend 1836 schrieb Storm den Brief an seinen Segeberger Onkel. Einen Tag später, am Freitag, ist der Erzähler in »John Riew« klipp und klar mit seinem alten Lübecker Reeder, und am nächsten Morgen, das wäre für den Dezember 1836 Samstag und Heiligabend gewesen, macht er sich auf den Weg nach Hamburg: Damals aber gab’s weder Chaussee noch Bahnzug; unser Wochenwagen, in dem wir wie die Heringe zwischen Ballen und Kisten verpackt waren, rumpelte auf dem verruchten Knüppeldamm, daß wir mitten auf dem Weg noch beide Stengen brachen; und so war’s schon gegen zehn Uhr abends, da wir endlich in Hamburg einfuhren.
Das Projekt Bertha
Was Storm und die Poesie angeht: In der Hansestadt Lübeck hat er vom Baum der Erkenntnis gegessen, in Altona an der Elbe bringt sie ihn in ihre Gewalt. In Gestalt eines unschuldigen Kindes tritt sie ihm entgegen, und Storm nutzt die Weihnachtsbescherung von 1836, um das eigene Poeten-Ich zu beleuchten und besser zu erkennen. Wir hören, an die Adresse eines Kindes gerichtet, leidenschaftliche Liebeslieder, Gesänge der Sinnlichkeit und des heftigen Begehrens.
Wer war dieses Kind? Bertha von Buchan wurde am 1. Februar 1826 in Rumburg (tschechisch: Rumburk) geboren. Heute liegt der Ort unmittelbar am deutsch-tschechischen Grenzübergang Seifhennersdorf. Die katholische Adelsfamilie von Buchan stammte aus Böhmen. Berthas böhmische Herkunft mag auf Storm einen besonderen Reiz ausgeübt haben. »Böhmen«, das klingt immer noch nach Musik, von daher kamen wanderndes Volk, Zitherspieler und Harfenmädchen.
Berthas Vater Eduard von Buchan hatte ein ansehnliches Erbteil erhalten, eine segensreiche Erziehung und Ausbildung legten ihm einen günstigen Grund; er wurde ein tüchtiger Geschäftsmann, der sich für Kunst und Kunsthandel interessierte. Berthas Mutter starb bald nach der Geburt des Kindes. Da Buchan seine Tochter nicht der frommen, katholischen Verwandtschaft seiner Frau zur Erziehung überlassen wollte, gab er sie in andere Hände, nach Hamburg, wo er oft in Geschäftsangelegenheiten gewesen war. Therese Rowohl (1782–1879) hieß die Pflegemutter, sie sollte Bertha im protestantischen Sinne erziehen, und er wollte dafür gut zahlen.
Auf einer farbigen Miniatur von 1833, Bertha ist sieben Jahre alt, sieht man das Kind zurechtgemacht als Erwachsene, in einem rosafarbigen, eng anliegenden, fast schulterfreien Kleid mit Puffärmeln. Viel nackte Haut vom Hals abwärts, bis zum runden, glatt gesäumten Ausschnitt. Über der Brust, die noch eine Kinderbrust ist, liegen waagerechte, immer dichter übereinander
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