Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Die Pflegemutter stirbt in der Bärenhöhle. Immerhin wird sie auf menschlich anständige Weise in den Tod begleitet, liebevoll gepflegt, betrauert und begraben. Aber das muss unten im Wald geschehen, denn oben im Schloss würde die Pflegemutter stören.
Hans Bär , das inszenierte Weihnachtsgeschenk, Teil des Projekts Bertha, erweist sich auch als selbstverliebte Verpackung des Zwanzigjährigen. Der starken Einbildungskraft des jungen Dichters steht ein schwaches Einfühlungsvermögen in das Empfinden des Kindes Bertha von Buchan gegenüber. All das wird in Storms kommenden Liebes- und Ehegeschichten sowie im Verhalten des Vaters zu seinen Kindern eine wichtige Rolle spielen; sein Lebensweg führt nicht nur durch die geographisch besetzten Orte, sondern ebenso durch die Nebenschauplätze seiner Werke und seiner biographischen Verschluss-Sachen, durchs Dickicht seiner Kunst zu Vergessen und Erinnern.
Berlin
Storm fährt, nachdem er Ostern 1838 in der Hohlen Gasse verbracht hat, nach Altona. Er besucht die Verwandten um Friederike Scherff und trifft auch Bertha wieder. Dann reist er mit seinem alten Lübecker Freund Ferdinand Röse in einer Postkutsche von Hamburg nach Berlin, um dort sein Studium fortzusetzen. Vornehm mit einer »Diligence« (Eilpostkutsche) dauert die Fahrt dreißig Stunden, Abfahrt abends um elf, Ankunft am übernächsten Morgen um fünf Uhr; die gemeine Post braucht zehn Stunden länger und erreicht Berlin erst nachmittags um drei. Storm bezieht eine Wohnung in der Nähe des Brandenburger Tors. Die nächsten beiden Semester studiert er in Berlin »Rechte« und hört Römisches Recht bei Savigny, Naturrecht bei Gaus und Privatrecht bei Homeyer.
Storm hat in seinen autobiographischen Aufzeichnungen »Beroliniana« (1838) beschrieben, wie der Student Nordheim müde und matt vom ewigen Fahren zusammen mit Doktor Antonio (Ferdinand Röse) in einer Preußischen Postkutsche den Tiergarten erreicht, der damals noch vor der Stadt lag. Früher Morgen kann es nicht gewesen sein, denn Student Nordheim sieht links und rechts am Weg Menschen zu Fuß und zu Pferde in Menge , und Ganze Sandstürme sieht er auch. Et stoobt heute een bisken , sagt ein mitreisender Berliner. Die alte staubige Stadt heißt es im fünften Kapitel. Brandenburg, seit Jahrhunderten bekannt als die Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, begrüßt die Reisenden mit einem Hoch, das trockenes Aprilwetter bringt; kalter Ostwind treibt Flugsand durch die Luft und weht hier und da kleine Dünen zusammen.
Storm ist in der Fremde angekommen: War ein Gesell zu Riekestadt, / Der fuhr zum Tor hinaus, / Und als er in der Fremde war, / Da war er nicht zu Haus. In Berlin entsteht der Text mit der von Storm komponierten Melodie für Röses Zeitschrift. Unklar ist, ob Röse oder Storm den Text gedichtet hat. Gleich die ersten Verse könnte Storm beigetragen haben; denn wer anders als er kann den Namen Riekestadt erfinden? Ganz gewiss verbirgt sich dahinter Friederike Scherff, die Rieke aus der Novelle »John Riew«. Rieke bedeutet Nähe zu Bertha von Buchan, und die Stadt, die der Gesell verlassen hat, heißt Altona oder Hamburg. Seltsam, hier in der Fremde schmeckt ihm der Wein nicht, den er zu Hause gern trinkt. Drum laß Gesell das Picheln sein / Und leg dich auf die Mägdelein! Dazu rät der Meister , niemand anderes als Magister Antonio Wanst.
Der Titel »Beroliniana«, abgeleitet von Berolina, dem lateinischen Namen für Berlin, erinnert an E.T.A. Hoffmanns »Kreisleriana«, abgeleitet vom Namen des Kapellmeisters Johannes Kreisler. Hoffmanns »Sammelstück« Teil 1 erschien 1814, Teil 2 ein Jahr später. Sammelstück 1 enthält eine Vorrede und sechs kurze Texte über Musik und Theater aus Hoffmanns Bamberger Zeit. Storms »Beroliniana« haben dasselbe Sammelmuster: Einer nicht ausgeführten Vorrede folgen sechs kurze Kapitel, in denen auch von Musik und Theater die Rede ist. Storms Berlinfragment ist ein autobiographisches, tief subjektives Seelenstück. Sein Ton ist durchaus hoffmannesk, sprühend vor Frische, Geistesgegenwart und Witz. Groteskes und Phantastisches wollen ans Licht, Übermut und Lebensfreude. Der Nacherzähler HTW Storm ist immer obenauf, hat sein Auge überall und alles im Griff. Storm bedient sich im Kap. IV , welches der Verfasser auslässt, literarischer Fisimatenten: Der Ankündigung der Nicht-Ausführung folgt dann doch die Ausführung, weil – das musste dann doch gesagt werden –
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