Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
lässt sich mit dieser Brille nur noch ein Wort entziffern: Krieg.
Noch ist es nicht so weit. Storm hat vorläufig nicht so sehr Krieg und Frieden, sondern viel mehr sein Projekt Bertha im Kopf. Kopf und Herz müssen indes mit einer Störung fertig werden, die ihm in den Michaelisferien 1837, als er im September zu Hause in Husum weilt, quer kommt: Emma Kühl. Die inzwischen Siebzehnjährige, Freundin von Storms Schwester Helene, kannte er von seinen Verwandtenbesuchen auf Föhr. Sie ist nun zu Besuch in der Hohlen Gasse. Storm verliert das Projekt Bertha für kurze Zeit aus den Augen, verlobt sich stattdessen mit Emma und bereut es sofort. Er reist wieder ab nach Kiel, sie fährt zurück auf die Insel, er lässt sie schmoren, bis sie Ende Februar des folgenden Jahres die Initiative ergreift und ihren Verlobten mit einem Brief erlöst, in dem sie sich aus der Verlobung verabschiedet. Storm hat auf seine Weise geschmort. Später schildert er in seiner Novelle »Auf dem Staatshof« (1858), wie das Mädchen Anne Lene, das kleine zierliche Mädchen, das mich anzog, vergeblich auf einen Brief ihres Verlobten wartet: Hast du etwas für mich? , fragt sie den Briefträger. Für dieses Mal nicht , antwortet der. Er mochte ihr diese Antwort schon oft gegeben haben , schreibt Storm. Wie ich je so habe handeln können, das kann ich mir jetzt nur daraus erklären, dass ich gar nicht gewusst, welche Qualen verschmähte Liebe sei, denn ich wusste damals noch nichts von der Liebe; es war alles damals nur heißes Blut, wird er später an Constanze schreiben. Nichts gewusst von der Liebe? Auch die Liebe zu Bertha nichts als heißes Blut? Das Lockenköpfchen-Gedicht spricht dafür.
Zu Weihnachten 1837, Storm steckt noch in der Sache Emma Kühl, verfasst er für das Lockenköpfchen sein erstes Märchen: Hans Bär / Ein Mährlein / erzählt von / H. Th. W. Storm. / Seiner jungen Freundin / Bertha von Buchan / gewidmet vom / Verfasser. So steht es auf dem Titelblatt. Das Ganze kommt als Weihnachtsgeschenk mit der Post von Kiel nach Hamburg.
Hans Bär, versehen mit dem ersten Vornamen des Verfassers, Sohn armer Köhlersleute, wächst in einer Bärenhöhle auf. Ungeheure Kräfte hat die Natur ihm mitgegeben, und er entwickelt sich, von einer Bärin genährt, zu einem furchteinflößenden Berserker. Auf der Wanderschaft hört er von einer Prinzessin, die ein ungeschlachter Riese zur Frau begehrt. Wer diesen Riesen beseitige, der solle die Königstochter haben, dem sei vom König die Hälfte seines Reiches versprochen . Nach erstem Wort- und Schwertgeplänkel zeigt Hans Bär, wer der Stärkere ist. Er liebt die schöne Königstochter mehr denn alles Gold und Edelsteine , die ihm der Riese bietet. Der Kampf beginnt, und so wie in einer Schüssel der abgeschlagene Kopf des Johannes der Salome präsentiert wird, führt Hans Bär bald das Haupt des Riesen als Zeichen seines Sieges vor und meldet dem König die frohe Botschaft .
Hans Bär erweist sich nicht nur als starker Mann, sondern nun auch noch als ein schöner. Und die Prinzessin reichte ihm bald vor dem Altare Herz und Hand. Der König stirbt, die Prinzessin ist nun Vollwaise; denn von einer Mutter Königin ist im Mährlein nicht die Rede. Hans Bär tritt sein Erbe an, fuhr alsbald mit seiner Gemahlin nach seiner Heimat, um seine Eltern und Geschwister mit sich nach seiner Residenz zu nehmen. Mit der Familie fährt er zur Bärenhöhle und geht hinein. Der alte Bär ist vor Altersschwäche dem Hungertod nahe; die Diener bringen Speis und Trank. Man tritt ans Sterbelager. Der alte Bär legt seinen Kopf in den Schoß der Königin, sie streichelt ihn mit ihren schönen Händen […] Doch alles umsonst. Der gute Bär war zu alt und zu schwach, um noch länger leben zu können.
Das Märchen ist dem Kind Bertha gewidmet, Storm hat mit dem Text auf Bertha gezielt, muss sie während der Schreibarbeit im Sinn gehabt haben. Seine hinter vorgehaltener Hand gesprochene Märchen-Botschaft liegt auf der Hand: Das Schicksal soll Bertha=Königstochter den stärksten und schönsten Mann zum Gemahl schenken und ein glückliches »Und-wenn-sie-nicht-gestorben-sind« stiften. Seltsam, dass Storm die Bärenmutter überwiegend in der maskulinen Form schildert: Der alte Bär heißt es immer wieder, und: Der Bär bietet ihm sogar die Brust. Nur einmal schreibt Storm die alte Bärenmutter . In den Schluss-Szenen ist, wie um sie zu betonen, zweimal die Rede von der alten Pflegemutter und einmal vom Pflegesohn .
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