DU HÖRST VON MIR
selbst.«
»Jetzt warte doch mal, nur keine voreiligen Schlüsse! In Literatur ›Sehr gut‹. Hehe. Das heißt, es sind bereits vier von fünf...«
›»Sehr gut‹?«
»Ja.«
»Bist du dir sicher?«
»Na klar, schau doch selber.«
»Das ist wenig gemessen an dem, was du weißt«, grummelte ich ohne ihn anzusehen. José lachte schallend.
»Jetzt mach aber halblang, ja!«
Ich sah ihn an. Er sah blendend aus. Ich schluckte meinen Speichel und flehte zum Himmel, die Welt möge in genau diesem Moment für immer anhalten, wo José mich mit dem strahlendsten Lächeln, das ich je an ihm gesehen hatte, anschaute. Mir gingen sein rüdes, unsicheres Auftreten, sein saures Gesicht aus den ersten Tagen unserer Bekanntschaft durch den Kopf. Wie sehr hatte er sich verändert! Wie war es möglich, dass der Glaube an sich selbst einen Menschen derartig verändert, dass es sich in seinem Äußeren, seinem Gesicht, seinen Augen so widerspiegelt, dass er Tag für Tag, Woche für Woche schöner wird. José war von so strahlender, zeitloser, beinahe schon engelsgleicher Schönheit; einer Schönheit, wie sie nur das Glücklichsein verleiht. José war in genau diesem Augenblick das schönste Wesen in Gottes weiter Welt.
»Und? Du sagst gar nichts dazu?«
Ich nahm einen tiefen Zug an der Zigarette und schaute mit gespieltem Ernst hinüber zum Hof der Schule.
»Und heute?«
»Du könntest mir ja wenigstens gratulieren, mich umarmen, oder so, findest du nicht?«
Die süße Lust, sich dem Vergnügen zu verweigern. Ich blieb unbewegt, sah ihn auch nicht an.
»Wie lief es heute?«, fragte ich erneut.
»Na ja, so lala...«, er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an, kreuzte die Beine, gleichgültig, »die Lehrerin kam fast zehn Minuten zu spät.«
»Und? weiter?«
»Na, immerhin zehn Minuten weniger Prüfungszeit, ja?
Denn die Abgabezeit sollte natürlich nicht verschoben werden. Meinst du...«
»Ja, ja, ja. Weiter!«
»Gut. Sie kam also mit dem Papierstapel rein und dann fiel ihr ein, die Sitzordnung zu verändern, damit wir nicht abschreiben können. Noch mal fünf Minuten. Stell dir das mal vor, denn...«
»José!«, schrie ich.
»Was denn?«
»Was zum Teufel wurde denn nun abgeprüft? Ich kriege noch einen Herzkasper! Komm zur Sache!«
Ich sah sein Grinsen, perfide und glücklich, wie ein Honigkuchenpferd. Er schlang mir seinen Arm um den Hals und kam mit seinem Mund ganz dicht an mein Ohr.
»Non es eques«, flüsterte er mit dunkler Stimme. »Quare...«
»... non sunt tibi millia centum«, fuhr ich fort, mechanisch, ohne glauben zu können, was ich hörte.
»Super, Herr Lehrer, sie haben's erraten!«
Ich starrte ihn ungläubig an.
»Omnia si quaeras, et Rhodos exsilium est!«, rief ich.
»Genau!«
»Sueton«, ich konnte es nicht glauben.
»Ja, eben!«
»Tiberius Nero! Die 12 Caesaren von Sueton!
»Gaius Sueton Tranquillus«, ergänzte er, dabei komikerhaft einen Zeigefinger in die Höhe hebend und sich das Lachen verkneifend.
»Aber José, du Riesenglückspilz, den Text konntest du doch auswendig!«
»Na ja, sagen wir: fast auswendig.«
Ich ergriff seine Hand, die locker auf meiner Schulter lag.
»Und? Was hast du gemacht?«, wollte ich wissen.
»Na, einfach die Übersetzung, die Analyse, das war ja einfach, dann die historische Einordnung, unterschreiben, abgeben und tschüß.«
»Aber... wie lange hast du gebraucht?«
»Pah, nicht lange. So zwanzig Minuten. Ich war als Erster fertig.«
Ich drückte seine Hand mit ganzer Kraft, drehte sie ihm um, drehte ihm den ganzen Arm nach hinten auf den Rücken. Er, lauthals lachend, versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien.
»Du Schweinehund!«, rief ich und umarmte ihn. »Du bist ein Riesenschweinehund! Und ich sitze hier die ganze Zeit und zähle Autos!«
»Ich habe dich vom Fenster aus gesehen«, er sah mich an, glücklich.
»Aber... das bedeutet ja...«, ich fuhr ihm durch seine Strubbelhaare und packte ihn im Nacken, »... dass du alle fünf Prüfungen bestanden hast! Du hast alles bestanden! Du hast es geschafft!«
»Du hast es geschafft«, sagte er, plötzlich ernst, »du hast mir geholfen.«
»Nein«, sagte ich, »ich habe dir geholfen, dir selber zu helfen. Die Schlacht hast du geschlagen, Bonaparte!«
»Du weißt genau, dass das so nicht stimmt, Javier«, sagte er leise, durchbohrte mit seinen schwarzen Augen meine Brust und lächelte, mein Gott, wie er lächelte. »Gut, und werde ich jetzt umarmt, oder warten wir damit,
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