Du lebst, solange ich es will
bevor Kayla quietschend zum Tresen gerannt kam, aber daran erinnert er sich offenbar nicht. Ich sage nur: »Ich bin Gaby.«
Als wir zum Tisch kommen, stehen die anderen beiden Jungen auf. Sie sagen nichts. Nehmen einfach nur ihre Tabletts und gehen.
Ich setze mich. Auf meinen Burrito mit fettigem Bohnenmus habe ich jetzt absolut keinen Appetit mehr. »Brock, das mit Kayla tut mir leid.« Ich schiebe einen Haufen Bohnenmus mit der Gabel von einer Tellerseite auf die andere.
»Danke«, sagt er leise. Vielleicht waren das die falschen Worte, vor allem da ja niemand weiß, was Kayla zugestoßen ist, aber was sollte ich sonst sagen? Er starrt zu Boden, wo Generationen von Schülern ihre Kaugummis ausgespuckt und schwarze Flecken hinterlassen haben.
Brocks erste Frage ist eine, die ich nicht erwartet hätte. »Hat sie oft von mir erzählt?« Er hat die Augen jetzt ganz geöffnet und sieht mich flehend an.
Ich wende den Blick ab. »Kayla und ich, wir kannten uns eigentlich nicht so gut. Frag lieber ihre richtigen Freunde, nicht mich. Wir haben nur zusammen gearbeitet.«
Er sieht auf seine Hände, die so groß wie Fanghandschuhe sind. Sie war immer so fröhlich. Ich kenne keine wie sie, die immer gelächelt hat. Sie war nie wütend, nie traurig. Sie war einfach -«, er fährt mit der flachen Hand über die Tischplatte, »total ausgeglichen.« Er weiß nicht, in welcher Zeitform er sprechen soll.
»Wieso habt ihr euch getrennt?« Ich kann kaum glauben, dass ich Brock tatsächlich diese Frage stelle. Noch unglaublicher ist, dass er sie beantwortet.
»Sie wollte es so.« Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber seine Stimme klingt belegt. »Ab Herbst wären wir auf verschiedene Schulen gegangen. Sie war sich sicher, dass wir dann sowieso nicht mehr zusammen wären, warum es also hinauszögern. Allerdings frage ich mich, ob das der wahre Grund gewesen ist. Immerhin hat sie dich gefragt, ob du mit ihr die Freitagsschicht tauschst, richtig?«
Ich nicke. Das scheint wohl jeder zu wissen.
»Mit wem war sie also Freitagabend verabredet? Hast du eine Ahnung?«
Was soll ich sagen? Ich weiß es nicht? Das wäre die Wahrheit. Sie hat nie einen Namen erwähnt. Oder soll ich ihm erzählen, wie Kaylas Gesicht geglüht hat und ihre Augen geleuchtet haben? Sie sah aus, als wäre sie verliebt. Das ist auch die Wahrheit.
Schließlich entscheide ich mich für: »Sie hat mir nicht gesagt, warum sie tauschen will. Nur, dass ich ihr einen großen Gefallen tun würde.«
»Meinst du, es war ein Kunde? Oder jemand aus der Schule? Hat sie irgendetwas über ihn erzählt?«
Alle denken immer, ich weiß etwas, aber das tue ich nicht. Und selbst wenn, was würde es schon ändern? Mit wem sie sich auch immer am Freitagabend treffen wollte, sicher hat er sie nicht zwei Tage vorher entführt.
»Sie hat gar nichts erzählt. Nur gesagt, dass sie Freitagabend etwas vorhat.«
»Ich habe gehört, der Täter hat nach dir gefragt. Kennst du ihn?«
Ich werde starr. »Was? Wieso fragst du das? Meinst du nicht, das hätte ich dann der Polizei gesagt?«
Er winkt ab. »Schon klar, schon klar, tut mir leid. Ich dachte nur - vielleicht gibt es etwas, das du mir, aber nicht ihnen erzählen würdest.«
»Ganz ehrlich, Brock, wenn ich irgendetwas zu erzählen hätte, würde ich es der Polizei erzählen. Denn ich will, dass man Kayla findet.«
Er macht ein leises Geräusch und abermals frage ich mich, ob ihm gleich die Tränen kommen. »Was sollen sie schon finden? Wer auch immer es getan hat, wird sie nicht einfach nach Hause spazieren lassen.« Obwohl es sein Tisch ist, nicht meiner, steht er auf, nimmt sein Tablett mit dem Essen, das er nicht angerührt hat, sagt »Danke, dass du mit mir gesprochen hast« und geht.
Auf dem Weg zur nächsten Stunde komme ich an Kaylas Schließfach vorbei. Es ist mit gelben Schleifen geschmückt. Auf dem Boden davor liegen ein halbes Dutzend Blumensträuße, noch in Plastik eingewickelt. Die Blumen verwelken bereits und lassen die Köpfe hängen.
Würde ich verschwinden, wer würde mich vermissen, außer meinen Eltern?
Der sechste Tag
KAYLA
Irgendwann habe ich die Wasserflaschen entdeckt, die vor dem Fernsehregal am Boden aufgereiht sind, und ich habe ein paar getrunken. Es gab auch eine Packung Müsliriegel, aber die ist schon lange alle. Die meiste Zeit habe ich geschlafen. Vielleicht sollte man mit einer Gehirnerschütterung lieber nicht schlafen, aber ich tue es trotzdem. Manchmal rufe ich um Hilfe, aber immer
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