Du lebst, solange ich es will
seltener. Ich versuche, die Schmerzen und Krämpfe in meinem Magen zu ignorieren.
Als ich dieses Mal aufwache, steht ein Mann vor mir. Er hat die Arme verschränkt.
»Helfen Sie mir.« Ich strecke die Hand nach ihm aus, er aber runzelt die Stirn und tritt einen Schritt zurück.
Ich stemme mich auf, sodass ich mit dem Rücken an der Wand neben dem Bett sitze.
Er sieht mich ausdruckslos an und sagt keinen Ton. Er trägt eine hellbraune Hose und ein marineblaues Poloshirt, in dessen Brusttasche ein paar Stifte stecken. Er hat dünne schwarze Haare und trägt eine kleine runde Drahtgestellbrille. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher.
»Schrei, so laut du willst«, sagt er und lächelt. Das Lächeln verändert sein Gesicht, lässt seine Augen leer wirken.
Ich schreie nicht. Ich weine noch nicht einmal. Oder flehe. Stattdessen sage ich: »Wer sind Sie? Wieso bin ich hier?«
»Du gehörst jetzt zu mir.« Er sagt es, als wäre es einfach nur eine Tatsache.
Sein Poloshirt ist bis oben zugeknöpft, aber direkt über dem Kragen kann man am Hals drei Striche erkennen, die wie heftige, tiefe Furchen aussehen. Ich schätze, es sind Kratzer.
Und ich glaube, sie stammen von mir. Ihr Anblick erfüllt mich mit Stolz. Stolz und Angst.
Und dem brennenden Verlangen, ihn abermals zu verletzen.
Meine Augen wandern zur Tür, die mit meinen blutigen Fingerabdrücken übersät ist. Sie ist zu. Aber vielleicht ist sie nicht abgeschlossen. Schnell, bevor man mir ansieht, was ich vorhabe, stürme ich mit ausgestreckten Armen an ihm vorbei. Als ich die Hände auf den Türknauf lege, spüre ich seine Hände auf meinen Schultern. Er zerrt mich zurück und ich merke gerade noch, dass die Tür verschlossen ist.
»Du bist ein böses, unartiges Mädchen«, sagt er und wirft mich auf' S Bett.
Ich stehe sofort wieder auf, damit er sich nicht auf mich werfen kann. Er kneift nur die Augen zusammen. Jetzt ist er so nah, dass ich seinen bitteren Atem riechen kann, aber ich stehe mit dem Rücken zur Wand und kann nicht weiter zurückweichen.
Schließlich sagt er: »Du wirst mich Meister nennen.«
»Was?« Ich habe gehört, was er gesagt hat. Ich kann es nur nicht glauben.
Er reckt das Kinn. »Ab jetzt nennst du mich Meister.« Er mustert mich. Wartet auf eine Reaktion. Er sieht aus wie meine Katze, wenn sie einen Vogel im Garten beobachtet. Ganz ruhig, aber voller Anspannung,
»Sag es«, drängt er.
Aber ich sage gar nichts. Als er sich plötzlich bewegt, sehe ich seine Hand noch nicht einmal.
Klatsch!
Er schlägt so fest zu, dass ich gegen die weiße Wand knalle. Sterne tanzen vor meinen Augen. In meinen Ohren pfeift es. Mit butterweichen Beinen gleite ich auf das billige Linoleum. Es fühlt sich kühl an der Wange an. Die goldenen Flecken glitzern. Oder vielleicht passiert das alles nur irgendwo hinter meinen Augen. In meinem kaputten Kopf.
Als ich mich aufrapple, schmückt ein weiterer Blutfleck die Wand. Behutsam berühre ich die Wunde. Meine Finger werden feucht und rot.
Er kräuselt die Nase, als er das Blut sieht. »Du nennst mich Meister«, wiederholt er.
»Du bist mein Meister«, sage ich.
Ohne ihn anzusehen.
Der sechste Tag
GABY
Als es zum Schulende klingelt, eile ich den Gang entlang, um Drew abzupassen. Ich entdecke ihn am Schließfach, aus dem er gerade sein Skateboard herausholt.
»Hast du deine Papiere dabei?«
Er zieht die Augenbrauen zusammen und fasst sich an die Gesäßtasche, als könnte jemand sein Portemonnaie geklaut haben. »Ja. Wieso?«
Ich drücke ihm meinen Schlüsselbund in die Hand. »Gut. kannst du mich nach Hause fahren. Du musst üben.«
»Was? Jetzt?«
»Ich will einfach sichergehen, dass du mit meinem Auto klarkommst, bevor du morgen die erste Pizza ausfährst.«
»Okay.« Er mustert den Schlüsselbund, an dem zwei Hausschlüssel und der Schlüsselanhänger vom Mini baumeln. »Was ist das für ein Teil?«
»Das ist der Schlüssel.«
Er fährt mit dem Zeigefinger darüber. »So einen Schlüssel habe ich noch nie gesehen.« Er ist rund, ungefähr so groß wie eine Dollarmünze, und an den Seiten gewölbt. Er sieht ein wenig wie Raumschiff Enterprise aus. Kein Metallstück ragt heraus.
»Glaub mir, es ist ein Schlüssel«, sage ich, während wir zum Schülerparkplatz gehen. Ich merke, dass die Leute jetzt wissen, wer ich bin. Es erinnert mich an dieses Mädchen, Jordan, die letztes Jahr an unserer Schule war. Ihr älterer Bruder hat die Waffe von seinem Vater
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