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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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wie nach einem Hundertmeterlauf. »Warum hast du bloß keine Strümpfe angezogen?«
    »Dann hätten mir die Stiefel nicht mehr gepasst.«
    »Wir müssen die Wunden waschen und Pflaster draufkleben.«
    Sie ging zu den Kartons im Vorraum und begann darin zu wühlen, während ich nach oben in mein Zimmer ging. Schon von der Treppe aus sah ich die Supermarkt-Tüte an meiner Türklinke hängen. Ich sah gleich, dass etwas darin war, und als es sich bewegte, wurde mir klar, was es war.
    Die Schlange.
    Ich ging auf meine Tür zu und blieb einen Meter entfernt stehen. In roten Buchstaben stand der Name des Supermarktes auf der Tüte. »Jeden Tag von 7–23 Uhr geöffnet«.
    Die Schlange bewegte sich, das Plastik beulte sich aus, die Tüte schaukelte. Auf der Veranda unter meinem offenen Fenster hörte ich Morgan mit dem Ball spielen.
    Ich war nicht sicher, ob sich die Schlange aufrichten und bis zu den Henkeln der Tüte reichen konnte. Also ging ich in mein Zimmer und holte die Winterjacke von der Kommode. In einerTasche steckten meine gefütterten Handschuhe. Ich zog Jacke und Handschuhe an, nahm die Tüte und zog sie von der Türklinke. Die Schlange bewegte sich wieder, und ich meinte sie zischen zu hören. Sie schien sich nicht aufrichten zu können und versuchte auch nicht, meine Hand zu erreichen.
    Ich trug die Tüte zum Fenster und schaute nach unten. Morgan stand mit nacktem Oberkörper in seiner weißblauen Shorts auf der Veranda. Er kickte den Ball zwischen dem rechten und dem linken Fuß, dem rechten und dem linken Schenkel, dann wieder dem rechten und dem linken Fuß hin und her. Er stand genau unter mir. Ich dachte, jetzt drehe ich die Tüte um und lasse ihm die Schlange auf den Kopf fallen.
    Aber dann hatte ich eine noch bessere Idee. Ich hob die Tüte wieder ins Zimmer, ging in die Abseite, zog die unterste leere Schublade auf und ließ die Schlange hineingleiten. Als sich der Schlangenkopf aufrichtete, knallte ich die Schublade zu. Nach einer Weile öffnete ich sie ungefähr einen Millimeter, damit die Schlange noch Luft bekam. Ich hörte, wie sie in der Schublade rumorte. Wahrscheinlich suchte sie nach einem Loch, durch das sie entkommen konnte.
    Dann zog ich Handschuhe und Jacke aus, ging mit der leeren Plastiktüte zum Fenster und ließ sie auf Morgan fallen, der immer noch mit dem Ball spielte.
    Als die leere Tüte auf ihn zuflatterte, machte er hastig einen Schritt rückwärts, ließ den Ball auf dem Verandaboden aufprallen und ins Gras rollen. Dann hob er den Kopf und sah zu mir herauf.
    »Warum hast du die Tüte an meine Tür gehängt?«, rief ich.
    Er glotzte mit seinen Kaninchenaugen.
    »Hast du nicht gesehen, was drin war?«
    »Da war nichts drin.«
    Er glotzte. Er hätte wahrscheinlich gesagt, dass die Augen wie Rattenpimmel aus dem Schädel standen, aber das ist nichtmein Stil. Ich gebe mich damit zufrieden zu behaupten, dass er gleichzeitig erstaunt, wütend und dämlich guckte.
    »Hast du nicht gesehen, was darin war?«, wiederholte er.
    »Da war nichts drin. Warum hast du sie an meine Tür gehängt?«
    »Machst du Witze?«
    »Was war denn drin?«
    Die Rattenpimmel rollten in seinem Kopf herum. Er sah aus wie ein einarmiger Bandit, der die Krise kriegte. Seine Hirnsubstanz schrumpfte. Ein Wunder, dass der Rest ihm nicht zu den Ohren herausfloss.
    Dann verschwand er durch die Verandatür und kam die Treppe heraufgestürmt, indem er drei Stufen auf einmal nahm.
    »Warum hast du sie an meine Tür gehängt?«, fragte ich. »Wolltest du mir damit irgendetwas sagen?«
    Aber er beachtete mich nicht. Er sah sich um, bückte sich, guckte unter mein Bett, ging in den Vorraum und schloss die Tür zu Annies Zimmer. Dann schloss er auch seine Zimmertür.
    »Was ist denn mit dir los?«, fragte ich. »Suchst du was?«
    Aber er antwortete nicht.
    »Hast du was verloren?«
    Er antwortete immer noch nicht, sondern wanderte spähend im Vorraum herum, bückte sich und sah in eine Ritze zwischen zwei Dielenbrettern, richtete sich auf und ging in Annies Zimmer. Vorsichtig öffnete er die Tür, indem er den Fußboden hinter der Tür genau absuchte, bevor er eintrat. Ich blieb im Vorraum stehen und beobachtete ihn.
    »Ist irgendwas Besonderes?«, fragte ich. »Wolltest du mir mit der Tüte etwas sagen? Dass du eine Knalltüte bist?«
    »Schnauze!«, brüllte er.
    Er lag auf dem Bauch und guckte unter Annies Bett.
    »Soll ich dir helfen?«, bot ich ihm an. »Wenn du mir sagst, was du suchst, kann ich dir helfen.«
    Er

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